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Noch gilt das Rilke-Motto

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„Wie zauberhaft ist doch die rhythmisch fließende Pracht von Kirchen, Palästen, zinnengekröntem Mauerwerk, Glockentürmen, Turmspitzen, Laubengängen, geräumigen Innenhöfen und Spitzbögen! Wie wundervoll ist der Anblick, der sich vom Gipfel des von steinerner Schönheit gesäumten Hügels bietet!"

Hector Berlioz hat nicht als einziger so von Prag geschwärmt - der Goldenen Stadt auf welligen Hügeln, unter vier Kaisern Residenzstadt des Heiligen Römischen Reiches und damit Kapitale Europas, umkämpft in vielen Jahrhunderten, bewundert und geliebt bis zum heutigen Tag.

Auch die Teilnehmer an der FURCHE-Leserreise vermochten letztes Wochenende nicht, sich ihrem Reiz zu entziehen, zumal strahlender Sonnenschein ihren Goldglanz vermehrte. 60 Frauen und Männer pilgerten über die Karlsbrücke und auf den Hrad-schin, zum Altstädter Ring und in den jüdischen Friedhof, um Natur und ' Kunst, Vergangenheit und Jetztzeit, Schicksal und Auftrag dieser Stadt auf sich wirken zu lassen.

Kulturrat Willy Lorenz hatte die Reiseteilnehmer gleich nach ihrer Ankunft bei einem Empfang in seiner Wohnung enthusiasmiert: er, der als Großneffe eines Professors der Böhmischen Universität zu Prag und einer Enkelin Frant isek Palackys, als Sohn eines mährischen Vaters und einer deutschböhmischen Mutter wie kein zweiter von der „böhmischen Nation" schwärmen kann, deren tschechische, deutsche und jüdische Mitglieder sich in ständiger Konkurrenz wechselseitig zu kulturellen Großleistungen anspornten.

Von Frantisek Palacky, dem großen Theoretiker des großösterreichischen Reichsgedankens, stammt bekanntlich der schon 132 Jahre alte prophetische Satz: „Wenn es Österreich nicht gäbe, müßte es im Interesse Europas und der Humanität geschaffen werden." Auch von ihm: „Unsere Augen richten sich nach Wien."nbsp;<

Was sehen die Augen der Österreicher, wenn sie diese auf das heutige Prag heften?

Die schöne Stadt, gewiß. Viele ihrer prunkvollsten Gebäude sind von rostigen Stahlgerüsteneingerahmt.dieTeyn-kirche schon seit sechs Jahren. „Es wird Tag und Nacht daran gearbeitet", wird einem versichert. Bitte, das Wochenende eignet sich da wenig für Wahrheitsprüfung.

Auch die Stille des Wenzelsplatzes, des Grabens und der Narodny trügt: Wochentags ist der Verkehr dort recht erheblich. Ein Auto kostet einen mittleren Angestellten freilich noch immer rund zweieinhalb Jahresgehälter.

Lebensmittelgeschäfte sind einigermaßen gut bestückt, Textilläden wirken weiterhin äußerst dürftig, Geschäftsstraßen insgesamt eher grau und trüb.

Aber: „Richtet gerecht, ihr Söhne des Menschen", mahnt eine lateinische Inschrift an einer gotischen Christusstatue im Altstädter Rathaus. Protzige Auslagen sind nicht das Wichtigste im Leben.

Die Tschechen sindv ein musisches Volk, auch heute genießen sie Musik,Ausstellungen, Lesungen und zelebrieren, so weit halt möglich, einen gepflegten Lebensstil - im „Slavia" am Moldauufer etwa, wo der Kaffee und die Mehlspeisen vortrefflich schmecken, auch wenn der Ober erst nach 30 Minuten mit dem Bestellten anrückt: „,Ich habe 250 Menschen zu bedienen."

Aber er ist sehr freundlich. Und er spricht Deutsch. Uberall ist die Bedienung freundlich. Und überall versteht man zumindest ein bißchen Deutsch. „Brauchen Sie Kronen?" jedenfalls kann jeder zweite auf der Straße sagen.

Natürlich ist Geldtausch solcher Art illegal. Die Tschechen scheinen aber zu wissen, wie weit man in der Illegalität gehen darf, ohne Kopf und Kragen zu riskieren.

Die riskiert man ungern. Barrikaden ersteigen Tschechen nicht, um an ihnen mit Gewißheit zu verbluten. „Was heißt schon siegen? Uberstehen ist alles!" zitiert Lorenz den Prager Rainer Maria Rilke.

Durch die Straßen der Stadt schlendern viele Jugendliche, langhaarig, in Leibchen und Jeans. Viele von ihnen entpuppen sich als DDR-Touristen. Ein Mädchen streitet auf Mord und Brand mit einem gelassen schweigenden Polizisten: „Hören Sie, das gibt es bei uns in der DDR nicht, Sie müssen mir Ihren Namen nennen, damit ich mich beschweren kann ..."

Der denkt nicht daran. Deutscher Perfektionismus gegen tschechische Überlebenskunst.

Auf Schloß Konopischt, der heute als Museum geführten Familienresidenz des einstigen Erzherzog-Thronfolgers, gedenken wir auf der Rückreise des FURCHE-Gründers Friedrich Funder, der zum engsten Vertrautenkreis des „Belvedere" gehörte, wo Franz Ferdinand Plane für „Vereinigte Staaten von Großösterreich" schmiedete, bis ihn die Kugel traf.

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