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Noch klettern Gibraltars Affen

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Das Mittelländische Meer, an dessen Gestaden die westlichen Kulturen entstanden, verengt sich dort, wo es an den weiten Atlantischen Ozean grenzt, auf weniger als dreizehn Kilometer. Zwei Kalkfelsen, einer im Norden, einer im Süden, gleichen steinernen Wächtern, und wenn die Alten sie die Säulen de Herkules nannten, bekundeten sie damit, daß ein Halbgott hier die Grenzen der Seefahrt gesetzt habe. Zweimal entschied sich hier die Weltgeschichte: 711, als Tarik ibn Said die nach ihm benannte Straße von Gibraltar übersetzte und für sieben Jahrhunderte den Halbmond auf der Pyrenäenhalbinsel aufpflanzte, und 1805, als beim nahen Trafalgar ein großer Eroberer die Seeherrschaft an England verlor und damit seinen Untergang vorbereitete. Im Museum zu Gibraltar ist die Seeschlacht von Trafalgar aufgebaut: „England expects, that every man will do his duty“, verkündet das Flaggensignal den Lebenden, welche die schlichte und doch so wirksame Parole offenkundig vergessen haben.

Carlos III., in Katalonien bereits anerkannt, kämpfte hier um das Erbe der spanischen Habsburger. Ihm aber war es bestimmt, als Kaiser Karl VI. Österreich zur Höhe seiner Barockkultur zu führen. Am 24. Juli 1704 stürmten Reichstruppen unter Feldmarschalleutnant Prinz Georg von Hessen-Darmstadt den Felsen von Gibraltar. Am Abend jenes historischen Tages aber hatte der britische Admiral Sir George Rook die Flagge seines Königs aufgezogen, und als England im Frieden von Utrecht aus der Koalition aussprang, trat die Katholische Majestät der britischen Majestät Gibraltar „für ewig“ ab. Artikel X von Utrecht verpflichtet Großbritannien, die katholische Religion in Gibraltar zu erhalten, doch dürften „unter keinen Umständen Juden oder Mauren Niederlassungs- oder Wohnrecht in Gibraltar erhalten“. Es ist interessant, daß Francos Kronjuristen, die Gibraltar zurückfordern, sich nicht auf jenen Artikel berufen, der nicht nur durch die blühende, 650 Köpfe zählende Sephardengemeinde und die vielen Muslimen, die ihre Frauen heute noch verschleiern, sondern auch an oberster Spitze durch den marokkanisch-jüdischer Familie entstammenden Primeminister Sir Joshua Hassan übertreten ist, vielmehr sich moderner Begründungen bedienen.

Gibraltars Grenze nach Spanien ist seit dem 5. Oktober 1966 gesperrt. Bei La Linea ist sie dichter als die Berliner Mauer. Gibraltars Verbindung mit Europa ist seine Luftbrücke nach London. Einmal in der Woche landet die Maschine in Madrid, dann steigen etwa zehn Fluggäste zu, das ist Gibraltars gesamter Verkehr mit Mittel- und Südeuropa. So sind die zahlreichen, sehr gut geführten und dabei auffallend billigen Hotels durchwegs mit englischem Mittelstandspublikum gefüllt.

Auch im Sommer 1972 führten Englands Außenminister Sir Alec Douglas-Home und sein spanischer Kollege Gregorio Lopez Bravo Gespräche über Gibraltar, ohne sich zu einigen: Es gab nur den Beschluß, einander wiederzubegegnen. Dabei war es gerade englische Liberalität, die Spanien den Vorwand für seine Wünsche lieferte. Seit 1964 hat Gibraltar eigene Legislative und ein Ministerium, die Verfassung vom 30. Mai 1969 nennt Gibraltar „einen Teil der Dominien Ihrer britischen Majestät“, und die unter internationaler Beobachtung durchgeführte Volksabstimmung vom 10. September 1967 ergab 12.138 Stimmen für Großbritannien, 44 für Spanien, 55 ungültige Stimmzettel und das Fernbleiben von 525 Wählern.

Im Falle Gibraltar leisteten sich die Vereinten Nationen einen Rekord an politischem Doktrinarismus. Dreimal in den letzten Jahren wurde Großbritannien aufgefordert, die „koloniale Lage“ in Gibraltar ehestens zu beenden. Umgekehrt zog Spanien aus der Gewährung des Dominion-Status und der faktischen Unabhängigkeit für Gibraltar den Schluß, die Bestimmung von Utrecht sei verletzt, wonach „die Krone Großbritanniens, falls es ihr genehm erscheinen sollte, sich des Eigentums an Gibraltar durch Schenkung, Verkauf, Tausch oder sonstiges zu entheben, der Krone Spaniens Genanntes vor allen anderen einräumen wird“.

Sind nun die Gibraltarer Engländer oder Spanier, oder beides, oder... ? Die katholische und die anglikanische Kathedrale sind annähernd gleichgroß, die Synagoge, in welcher der sephardische Ritus gilt, ist gut besucht und sehr gepflegt, die Zahl der Muslimen steigt. Und hier liegt ein Problem für die nähere oder fernere Zukunft, das die mit verdächtiger Eile verfügte Auslieferung marokkanischer Malkontenter an ihr Heimatland blitzartig erhellt hat. An die Stelle der 4600 spanischen Grenzgänger, die in ihrer Heimat bleiben müssen, treten in steigendem Maße Marokkaner, die das Stadtbild bereits zum guten Teil beeinflussen. Die Abriegelung vom spanischen Norden könnte eine Öffnung in den maghrebinischen Süden mit wenig erwünschten Folgen verursachen.

Die schönsten Läden sind im Besitz von Indern, welche prachtvolle Waren aus dem Osten zu unwahrscheinlich niederen Preisen feilbieten. Soll mit Gibraltar eine typische Stadt des alten Commonwealth verschwinden, in der Völker und Bekenner verschiedener Bekenntnisse friedlich nebeneinander leben? Muß sich die Zerschlagung des alten Österreich in weltweitem Ausmaß wiederholen?

Mit einer kühnen Seilbahn, gebaut von einer Schweizer Firma, geht es auf den historischen Felsen. Die Aussicht ist schier grenzenlos. Im Osten blaues Meer, wohin man blickt, im Süden der Bruder des Felsens im marokkanischen Rif, im Norden die nahe und doch unerreichbare spanische Grenzstadt, im Westen, jenseits der Bucht, in der wohl alle Kriegsflotten der Erde Platz fänden, jenes Algeciras, wo sich bei der Marokko-Konferenz am 7. April 1906 die Weltfront gegen Deutsch: land und Österreich-Ungarn formte.

„Apes den“ auf halber Höhe des Felsens. Solange die Affen auf dem Felsen von Gibraltar herumklettern, herrscht Großbritannien in, diesem Teil der Erde. Selbst ein Geist wie Winston Churchill unterlag dieser Märe. Als während des zweiten Weltkrieges eine legale Einfuhr von Affen unmöglich war, versprach der Kriegspremier jedem Spanier, der einen zur Vermeidung von Inzucht geeigneten Affen einschmuggle, eine Kiste Whisky; wieviel Whisky damals über die Grenze ging, ist leider in der englischen Kriegsgeschichte nicht nachzulesen. In Wahrheit siegte nicht die Affenzucht, sondern die Klugheit des spanischen Caudillo, der Hitlers Bündnislockungen zurückwies.

Fast noch interessanter als das Affenheer ist die Person ihres Pflegers. Ein Veteran von Ihrer Majestät Gibraltar-Regiment. Er kennt die Geschichte jedes seiner Lieblinge und ist unermüdlich im Erzählen der Streiche, die hier verübt werden. Ein altes Männchen kommt und hört au, während der Wächter warnt, etwa den Photoapparat aus der Hand zu geben, da er sonst unweigerlich den Felsen hinabsausen würde. Und nicht füttern!

Der nur sechs Quadratkilometer große Stadtstaat mit eigenem Ministerium ist eine kleine Welt für sich. Aus einem Kriegshafen wird ein Urlauberparadies. Es wäre schade, wenn ein Staat, dessen Eintritt in die europäische Familie bei uns noch kaum zur Kenntnis genommen wurde, wieder verschwände. Vorläufig klettern noch die Affen über die Felsen, und warum sollten wir wenigei abergläubisch sein als der große Churchill?

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