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Noch lebt Charta 77

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Das Manifest der Charta 77 und ihre Unterzeichner, die Chartisten, stehen sowohl in der CSSR als auch in der tschechischen Exilpresse seit einigen Jahren im Kreuzfeuer ungerechter Kritik: Man wirft der jjharta 77 vor, sie werde vor allem von ehemaligen Reformkommunisten getragen und bleibe deswegen vom Volk isoliert.

Beide Argumente der Kritiker, vorwiegend selbst Angehörige der geistigen Opposition in der CSSR, stimmen zwar; allerdings wie fast immer in solchen Fällen nicht zur Gänze und nicht im Wesentlichen. Unter den ersten etwa 250 Unterzeichnern der Charta 77 findet man tatsächlich die Namen von ehemaligen prominenten Kommunisten, in der Zeit des Prager Frühlings führenden Re-

formern. Einige Dokumente der Charta 77 tragen in der Tat die Merkmale des eurokommunistischen Gedankengutes.

Entscheidend für die Charta 77 ist aber die Tatsache, daß ihre inzwischen auf ungefähr 1.500 Personen angewachsene Zahl der Unterzeichner die schlimmen zehn Jahre überlebt haben, daß es sie noch gibt.

Ohne Charta 77 wäre die Lage in der CSSR noch trauriger und hoffnungsloser.

Als heute vor zehn Jahren im Westen das Manifest der Charta 77 veröffentlicht wurde und in Prag auf Schreibmaschinen immer wieder abgeschrieben und weitergegeben zirkulierte, waren die Genossen im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und ihre Apparatschiks geschockt. Fast zehn Tage wußten die in Sachen Propaganda und Desinformation erfahrenen Parteileute nicht, was sie mit der Charta 77 und mit ihren ersten 250 Unterzeichnern anfangen sollten.

Nach dem ersten Schock legte die Partei dem Volk eine „Anti-charta“ vor, die ein jeder, der sich „retten“ wollte, unterschreiben mußte. Aus der damaligen Zeit stammen die Stimmen von Werktätigen, die im CSSR-Fernsehen und im Rundfunk erklärten: „Obwohl ich die Charta 77, dieses abscheuliche Dokument, von Imperialisten und Revanchisten inspiriert, nicht gelesen habe, verurteile ich sie als eine ideologische Diversion.“

Vom Standpunkt der Prager Genossen betrachtet, war die hysterische Kampagne gegen die Charta 77 und ihre Unterzeichner erfolgreich: der KP gelang es vor allem, die Arbeiter einzuschüchtern.

Gleich nach der Propagandakampagne gegen die Charta 77 schaltete sich auch die Geheimpolizei in den Kampf gegen die

Chartisten ein; fast alle Unterzeichner wurden verhört und mit allen Mitteln dazu gedrängt, ihre Unterschrift unter dem Manifest zu widerrufen. Bekannt sind bis heute nur drei Fälle von Chartisten, die ihre Unterschrift widerrufen haben.

Innerhalb der Charta 77 bildete sich der VONS, der Ausschuß zur Verteidigung von zu unrecht Verfolgten.

Die Tatsache, daß die Charta 77 keine Massenbewegung wurde, politisch gesehen vielschichtig blieb, erwies sich nach zehn Jahren auch als Vorteil: Die Chartisten kennen einander persönlich; falls die Geheimpolizei einen von ihren ständigen Sprechern einsperrt, gibt es bis heute genug vertrauenswürdige Persönlichkeiten, die an die Stelle der Verhafteten treten.

Die Charta 77 ist heute das Gewissen des Volkes. Sie diskutiert und formuliert aber Gedanken, kritische Stellungnahmen und Tatsachen, die die KP hartnäckig verschweigt.

Alle Dokumente der Charta 77 werden nicht nur in der CSSR verbreitet und in den Westen geschickt, sondern auch den zuständigen Partei- und Regierungsbehörden in Prag bekanntgegeben.

Ihre Aufgabe sehen die Chartisten heute vor allem darin, den kritischen Dialog, der öffentlich nicht stattfinden darf, aufrecht zu erhalten und für alle Bürger, Kirchen, Gruppen und Minderheiten einzutreten, die verfolgt werden.

Vor zehn Jahren, als das Manifest der Charta 77 veröffentlicht wurde, haben die damals aufgeschreckten Genossen im Prager ZK der KP einen Satz in diesem Manifest nicht richtig gelesen, und zwar das Angebot zu einem kritischen Dialog mit der Regierung und mit der KP. In der Breschnew-Ära und zur Zeit seiner ideologisch verkalkten Nachfolger war in Prag ein solcher Dialog nicht möglich.

Nachdem sich jetzt jedoch Parteichef Michail Gorbatschow in der UdSSR bemüht, die dogmatischen Barrieren aufzulockern, es sogar wagen konnte, Andrej Sa-charow eine Rückkehr aus der Verbannung nach Moskau zu bewilligen - diese Maßnahme nahmen die Prager Dogmatiker fast mit Entsetzen auf -, gewinnt die Charta 77 — geistig mit Sacharow eng verwandt - an Bedeutung.

Allerdings sind Gustav Husak, Staatspräsident und Generalsekretär der KP, und seine neo-stalinistischen Ideologen mit Vasil Bilak an der Spitze, die jetzt noch die sowjetische Presse und Gorbatschows Reden zensurieren, im Vergleich mit diesem Reaktionäre.

Der Autor, bekannter tschechischer Romancier, während der Dubcek-Ära führender Kämpfer für eine Erneuerung in Prag, lebt seit 1968 in München.

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