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Nomenklatura - der sowjetische Erbadel
Milovan Djilas, entfremdeter Waffengefährte Titos, hat vor mehr als zwanzig Jahren den Begriff der,,neuen Klasse" geprägt. Im ureigensten Vaterland der Werktätigen, Inder Sowjetunion, hat sie ihre lupenreinste Form angenommen - in der Nomenklatura.
Milovan Djilas, entfremdeter Waffengefährte Titos, hat vor mehr als zwanzig Jahren den Begriff der,,neuen Klasse" geprägt. Im ureigensten Vaterland der Werktätigen, Inder Sowjetunion, hat sie ihre lupenreinste Form angenommen - in der Nomenklatura.
Ideologisches Geprahle über die Abtragung von Klassenschranken in der sozialistischen Gesellschaft wird zum zynischen Gebrauch von Lüge. Die letzte Konstitution der UdSSR, von Breschnew 1977 vorgelegt, behauptet, der „Staat des gesamten Volkes“ sei errichtet, die Ausbeutung einer Klasse durch die andere, von Individuen durch das Gemeinschaftswesen beseitigt.
Nichts weniger ist geschehen. Die Schranken alteingesessener Klassen mögen verschwunden sein, an deren Stelle sind jedoch neue soziale Grenzmarken errichtet, zu hoch, als daß sie ein gewöhnlicher Sterblicher überblik- ken, geschweige denn überschreiten könnte.
Ist es nicht paradox? Der wohl mächtigste soziale Körper der Welt lebt, ohne daß der Durchschnittsbürger im Osten oder die Weltöffentlichkeit Genaues über seine Lebensweise wüßte. Selbst hochqualifizierte westliche Sowjetologen schweigen sich über die Lebensart der „Nomenklaturi- sten“ aus. Sie müssen es, weil sich die neue sowjetische Klasse strikt jeden Einblick von außen versagt.
Es mußte schon einer kommen, der selbst zu diesen Mächtigen gehört hat, um den Schleier zu lüften und etwas Licht in das Dunkel der „Nomenklatura“ zu werfen: Michael S. Voslen- sky, habilitierter Historiker und Philosoph mit blendender Karriere als Wissenschaftler und politischer Berater im ZK-Apparat.
Der einstige Übersetzer am Nürnberger Prozeß und jetzige Inhaber eines österreichischen Paßes, mit Sitz in Starnberg, ist Mitte der siebziger Jahre in den Westen übergesiedelt, hat damit auf das sorgenfreie Leben eines Höchstprivilegierten verzichtet. Das Problem geht er mit dem Instrumentarium des Marxismus-Leninismus und der tiefen Kenntnis der Parteigeschichte an.
Sein persönliches Erleben bereichert der Autor mit bisher im Westen unbekanntem Material. Das Ergebnis, die „Nomenklatura - die herrschende Klasse der Sowjetunion“, ist damit eine politische Offenbarung, sozialwissenschaftliche Studie höchsten Ranges.
„Nomenklatura“ bedeutet nicht nur Klassifikationsliste und Auslesesystem für die Apparatschiks der oberen Parteihierarchie, sondern Regelwerk für privilegierte und ausschließliche Machtausübung. Macht ist alles,
der „Genuß der Genüsse**, wie Djilas sagt. Man könne von allem genug bekommen, hat Staatspensionär Chruschtschow vor seinem Tod erklärt, von Delikatessen, Frauen und Wodka, nicht aber von der Macht und ihrer Ausübung.
Darüber hinaus kommen die körperlichen Wohltaten für diese „Noch- Gleicheren“ nicht zu kurz. „Nomenklatura“ ist jene neue Klasse, die sich des Staates für seine Zwecke bedient und die Mittel auf dem Wege des Parasiten aus dem darbenden Volk durch ein gigantisches Steueraufkommen preßt. Ist die Macht das wichtigste, dann wird das Ausmaß der Macht am Anteil der Privilegien gemessen.
Der Nomenklaturist verleugnet seine Existenz als solcher, tut alles, um sich als Teil des - im Staate Breschnew überbordenden - Verwaltungsapparates auszugeben. Der Mächtige in der Schminke des Werktätigen. Er lebt im „Spezialland No- menklaturien“ in dem alles exklusiv ist: vom Kreißsaal, in dem der Auserwählte geboren wird, bis zum Friedhof.
Voslensky schätzt die neue Klasse auf eine Viertelmillion. Nach den neuesten Angaben zählt der Staat über 17 Millionen Parteimitglieder, und Parteizugehörigkeit, als Aufstiegschance nicht aus Überzeugung, ist im „realen Sozialismus“ allein seligmachend.
Voslensky beschreibt detailliert die Strukturen der sowjetischen Macht- eliteund den Aufstiegzum „Nomenklatur“. Dieser wird immer schwerer, nachdem die vormals für Verdienste verliehene rote Nobilität langsam zum Erbadel wird.
In der Außenpolitik ist die Nomenklatur unmittelbar auf Expansion gerichtet - das berührt uns unmittelbar. Das ist die langfristige Zielsetzung. Die taktischen Mittel sind offenkundig, reichen von Afghanistan bis zum eigentümlichen Gebrauch von „friedlicher Koexistenz“ und Einbahnstraße Abrüstung. Alleinige Schranke: Gefährdung der eigenen Position und damit Absage an jedes Risiko.
Und die Aussichten für die Staatsparasiten? Sie werden langsam alt, meint Voslensky und wertet Breschnews stagnierende Stabilität als ein Zeichen dafür. An Abdanken denken sie freilich nicht, es sei denn durch ein Inferno.
NOMENKLATURA. Die herrschende Klasse der Sowjetunion. Von Michael S. Voslensky. Molden Verlag, Wien 1980. 550 Seiten, Geb., öS 360.»
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