6918091-1981_34_07.jpg
Digital In Arbeit

Nomenklatura - der sowjetische Erbadel

19451960198020002020

Milovan Djilas, entfremdeter Waffengefährte Titos, hat vor mehr als zwanzig Jahren den Begriff der,,neuen Klasse" geprägt. Im ureigensten Vaterland der Werktätigen, Inder Sowjetunion, hat sie ihre lupenreinste Form angenommen - in der Nomenklatura.

19451960198020002020

Milovan Djilas, entfremdeter Waffengefährte Titos, hat vor mehr als zwanzig Jahren den Begriff der,,neuen Klasse" geprägt. Im ureigensten Vaterland der Werktätigen, Inder Sowjetunion, hat sie ihre lupenreinste Form angenommen - in der Nomenklatura.

Werbung
Werbung
Werbung

Ideologisches Geprahle über die Abtragung von Klassenschranken in der sozialistischen Gesellschaft wird zum zynischen Gebrauch von Lüge. Die letzte Konstitution der UdSSR, von Breschnew 1977 vorgelegt, be­hauptet, der „Staat des gesamten Vol­kes“ sei errichtet, die Ausbeutung ei­ner Klasse durch die andere, von Indi­viduen durch das Gemeinschaftswe­sen beseitigt.

Nichts weniger ist geschehen. Die Schranken alteingesessener Klassen mögen verschwunden sein, an deren Stelle sind jedoch neue soziale Grenz­marken errichtet, zu hoch, als daß sie ein gewöhnlicher Sterblicher überblik- ken, geschweige denn überschreiten könnte.

Ist es nicht paradox? Der wohl mächtigste soziale Körper der Welt lebt, ohne daß der Durchschnittsbür­ger im Osten oder die Weltöffentlich­keit Genaues über seine Lebensweise wüßte. Selbst hochqualifizierte westli­che Sowjetologen schweigen sich über die Lebensart der „Nomenklaturi- sten“ aus. Sie müssen es, weil sich die neue sowjetische Klasse strikt jeden Einblick von außen versagt.

Es mußte schon einer kommen, der selbst zu diesen Mächtigen gehört hat, um den Schleier zu lüften und etwas Licht in das Dunkel der „Nomenkla­tura“ zu werfen: Michael S. Voslen- sky, habilitierter Historiker und Philo­soph mit blendender Karriere als Wis­senschaftler und politischer Berater im ZK-Apparat.

Der einstige Übersetzer am Nürn­berger Prozeß und jetzige Inhaber ei­nes österreichischen Paßes, mit Sitz in Starnberg, ist Mitte der siebziger Jah­re in den Westen übergesiedelt, hat damit auf das sorgenfreie Leben eines Höchstprivilegierten verzichtet. Das Problem geht er mit dem Instrumen­tarium des Marxismus-Leninismus und der tiefen Kenntnis der Parteige­schichte an.

Sein persönliches Erleben berei­chert der Autor mit bisher im Westen unbekanntem Material. Das Ergeb­nis, die „Nomenklatura - die herr­schende Klasse der Sowjetunion“, ist damit eine politische Offenbarung, sozialwissenschaftliche Studie höch­sten Ranges.

„Nomenklatura“ bedeutet nicht nur Klassifikationsliste und Auslese­system für die Apparatschiks der obe­ren Parteihierarchie, sondern Regel­werk für privilegierte und ausschließ­liche Machtausübung. Macht ist alles,

der „Genuß der Genüsse**, wie Djilas sagt. Man könne von allem genug be­kommen, hat Staatspensionär Chruschtschow vor seinem Tod er­klärt, von Delikatessen, Frauen und Wodka, nicht aber von der Macht und ihrer Ausübung.

Darüber hinaus kommen die kör­perlichen Wohltaten für diese „Noch- Gleicheren“ nicht zu kurz. „Nomen­klatura“ ist jene neue Klasse, die sich des Staates für seine Zwecke bedient und die Mittel auf dem Wege des Pa­rasiten aus dem darbenden Volk durch ein gigantisches Steueraufkom­men preßt. Ist die Macht das wichtig­ste, dann wird das Ausmaß der Macht am Anteil der Privilegien gemessen.

Der Nomenklaturist verleugnet sei­ne Existenz als solcher, tut alles, um sich als Teil des - im Staate Breschnew überbordenden - Verwal­tungsapparates auszugeben. Der Mächtige in der Schminke des Werk­tätigen. Er lebt im „Spezialland No- menklaturien“ in dem alles exklusiv ist: vom Kreißsaal, in dem der Auser­wählte geboren wird, bis zum Fried­hof.

Voslensky schätzt die neue Klasse auf eine Viertelmillion. Nach den neue­sten Angaben zählt der Staat über 17 Millionen Parteimitglieder, und Par­teizugehörigkeit, als Aufstiegschance nicht aus Überzeugung, ist im „realen Sozialismus“ allein seligmachend.

Voslensky beschreibt detailliert die Strukturen der sowjetischen Macht- eliteund den Aufstiegzum „Nomenkla­tur“. Dieser wird immer schwerer, nachdem die vormals für Verdienste verliehene rote Nobilität langsam zum Erbadel wird.

In der Außenpolitik ist die Nomen­klatur unmittelbar auf Expansion ge­richtet - das berührt uns unmittelbar. Das ist die langfristige Zielsetzung. Die taktischen Mittel sind offenkun­dig, reichen von Afghanistan bis zum eigentümlichen Gebrauch von „fried­licher Koexistenz“ und Einbahnstra­ße Abrüstung. Alleinige Schranke: Gefährdung der eigenen Position und damit Absage an jedes Risiko.

Und die Aussichten für die Staats­parasiten? Sie werden langsam alt, meint Voslensky und wertet Bresch­news stagnierende Stabilität als ein Zeichen dafür. An Abdanken denken sie freilich nicht, es sei denn durch ein Inferno.

NOMENKLATURA. Die herrschende Klasse der Sowjetunion. Von Michael S. Voslensky. Molden Verlag, Wien 1980. 550 Seiten, Geb., öS 360.»

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung