6863766-1977_47_04.jpg
Digital In Arbeit

Norbert Leser als Zaungast der Politik

Werbung
Werbung
Werbung

Konnte Sich in einem Staat, dessen Bürger völlig verschiedenen Lesarten über sein Zustandekommen und seine Aufgabe huldigten, auch nur ein Minimum an Konsens entwickeln? Diese für seine Person ohne Zweifel mit einem Nein beantwortete Frage stellt der SPÖ- ‘ Ideologe und Politik-Wissenschafter Univ.-Prof. Dr. Norbert Leser in seinem gemeinsam mit dem in die USA emigrierten Arzt und Schriftsteller Dr. Richard Berczeller geschriebenen Buch „Als Zaungäste der Politik”.

Gerade mit dieser Frage, die letztlich das Resultat leidvoller Erfahrungen in der Ersten Republik ist, beschreibt Leser das, was möglicherweise Hauptzweck des Buches sein könnte: Leser warnt vor den Abgründen und Irrwegen, die sich demjenigen öffnen könnten, der die Zeitgeschichte nach Lust und Laune, vor allem aber nach parteipolitischen Maßstäben interpretiert und vergewaltigt. Sein mit dem seriösen Anspruch eines Theoretikers und Wissenschafters geschriebenes Buch sollte insbesondere jene politisch Interessierten zur Lektüre verleiten, die sich - ob sie „links”, „rechts”‘oder in der „Mitte” stehen - nicht von parteioffizieller Geschichts-Interpretation anschwärzen lassen wollen. Einer Inte rpretatiort, die sich stets auf den kurzen Nenner bringen läßt: In der Ersten Republik ließen die „Schwarzen” friedliche Arbeiter über den Haufen schießen, um dann Hand in Hand mit der katholischen Kirche den Taufpaten für Nazi-Deutschland abzugeben. Wer auch Kreiskys rhetorischen Drohfinger in Richtung 1927,1934 und 1938 kennt, hat manchmal den Ein druck, der Kanzler wolle das an Über-Konsum von Macht wettmachen, was seine politischen Ahnen in der Ersten Republik an Disengagement und politischer Verantwortungsscheu an den Tag gelegt haben.

Nicht so Norbert Leser, der zwar „die große Hauptschuld des bürgerlich-konservativen Lagers” nicht aus den Augen verlieren, „dessenungeachtet aber auch den Anteil der So zialdemokratie am negativen Ausgang des Unternehmens” untersuchen möchte. Leser bekennt auch frei, für seine Einschätzung der Zeitgeschichte innerhalb seiner Partei nicht immer Lob geerntet zu haben: „Die These von der .geteilten Schuld’, die im Widerspruch zur vorherrschenden Parteiversion der alleinigen Schuld der Gegenseite steht, ist mir innerhalb der Partei wiederholt zum Vorwurf gemacht worden.”

Leser verknüpft seine Analyse der politischen Entwicklung in der Ersten Republik immer wieder mit Beurteilungen der Person Otto Bauers, den er als Gefangenen seiner Selbsttäuschungen, als Zauderer und als überzeugter Verfechter ei nes marxistischen Automatismus schildert, wonach der Sozialismus über den Kapitalismus siegen müsse, ohne daß die Sozialdemokraten dabei den mühevollen Weg einer demokratischen Mitverantwortung beschreiten müßten: „Als sich allerdings endgültig herausstellte, daß die Alternative nicht Kapitalismus oder Sozialismus, sondern Faschismus oder bürgerlicher Rechtsstaat lautete, wäre es notwendig gewesen, diesen Staat mit allen Mitteln, auch denen der Koalition, zu stützen und gegen Angriffe wirksam zu verteidigen.”

Kritische Worte findet Norbert Leser auch für manche Elemente, die sich aus der austromarxistischen Zeit in die heutige SPÖ herübergerettet haben. Etwa das Prinzip der organisierten Massenpartei: „Wohin führt eine Praxis, die das Wachstum der Partei um jeden Preis anstrebt und dazu neigt, das Wachstum als obersten Wert zu verabsolutieren? Treffen die qualitativen Einwände, die heute allerorten gegen den Wachstumsfetischismus erhoben werden, nicht auch auf die Vernachlässigung von Wertgesichtspunkten unter der Übermacht der toten Zahl zu, hinter der sich ,tote Seelen’ verbergen?”

Leser deckt peinliche Mängel an diesem System auf: „Der parteipolitisch abstinente Staatsbürger, der durchaus nicht immer der politisch weniger bewußte zu sein braucht, gerät in einem solchen System ins Hintertreffen und wird auf kaltem Wege seiner staatsbürgerlichen Grundrechte, vor allem des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz beraubt.”

Beachtliche Worte findet Leser, ein Wort Karl Renners zitierend, wonach der Hainfelder Parteitag das „Bethlehem des österreichischen Sozialismus” gewesen sei, auch für das Verhältnis zwischen Sozialismus und Christentum, wobei er etwa hinsichtlich des Gedankens des Opfers durchaus ähnliche Grundwerte konstatiert. Er stellt die Frage, ob ein Antiklerikalismus, der die Kämpfe der Vergangenheit in einer Zeit wiederaufnimmt, die eine Verbündung aller Gutgesinnten erfordert, nicht fehl am Platze sei.

Lesers Offenheit, aus ehrlicher Überzeugung - und nicht aus taktischen Gründen - im Rahmen einer zeitgeschichtlichen Analyse auch Worte der Kritik an seinen eigenen „Stall” zu richten, muß leider fast als Unikat in der Landschaft der polithistorischen Kommentatoren gewertet werden.

ALS ZAUNGÄSTE DER POLITIK, Norbert Leser und Richard Berczeller, Verlag Jugend und Volk, Wien 1977, 256 Seiten, öS 228,-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung