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Nostalgie ferner Kindheit

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Leider hatte der Kutscher der Großmama gewechselt. Er saß steif und unbekannt auf dem Bock der schwarzglänzenden Karosse mit den Lipizzaner-Schim-meln und betrachtete die aus dem Zug steigende Familie teilnahmslos wie eine beliebige Reisegesellschaft. Erst nachdem die Mutter ihn angesprochen hatte, lüftete er schwach den Rosettenzylinder, sprang elastisch auf die Erde herunter und leitete gemessen die Verstauung des Gepäcks.

Ich durfte wieder neben ihm auf dem Kutschbock sitzen, und schrecklich gern hätte ich die Zügel in die Hand genommen, wie es schon manches Mal geschehen war; ich hätte das harte, knarrende Leder spüren mögen und den festen Zug der Trensen; aber der fremde Mann verstand keine diesbezüglichen Andeutungen.

Am Ufer des Kurbaches knieten Wäscherinnen und schwemmten. Hufeschlagend brausten die Rosse eine kleine Anhöhe hinan, um die nächste Ecke sah man das Haus der Großeltern, gelblich, länglich, f estlich. Auf dem Balkon stand die Großmama, sie winkte den Ankommenden mit einem Spitzenfächer zu.

In der Höhe des Parks hörte man die Grasmähmaschinen, die wie Staubsauger über die englischen Rasenflächen geführt wurden. Das frische Grün duftete stark; aber nicht ländlich, sondern gepflegt.

Der Springbrunnen wurde in diesem Äugenblick vom Gärtner zur Fontäne entfacht, und die Türe des Haupteinganges öffnete sich weit mit einem Glockenton. Im Rahmen standen die Großeltern; die Großmama imposant, jünger als die Mutter, mit hochtoupiertem Haar, großen weißen Zähnen; der Großpapa im korrekten Altväteranzug, vornehm und reserviert, ein stilles Lächeln um die Augenwinkel. Die Haushälterin stand am Rand der Eingangsstiege, mit krummem Rücken, in schwarzem Taft mit weißer Schürze; eins, zwei, drei Stubenmädchen flankierten das Tor. Zwei stichelhaarige Pinscher sprangen um die Pferde und wedelten fanatisch mit den Schwanzstummeln. Und oben in der Höhe des Gartens setzten die Gärtner das Grasscheren aus, lehnten sich malerisch auf ihr Gerät, die Ärmel aufgekrempelt, das Hemd blusig über dem Leibriemen. Es roch heftig nach Kurort: eine Lotion aus gesprengtem Rasen, besonnten Kieswegen, Promenadenkonzert und Föhrenwald.

Besucher waren im kühlblauen Salon versammelt: eine alte Dame, deren Sohn Staatsanwalt war, eine unscheinbare, etwas gedrückte Frau, ihres Zeichens Modistin, eine ausladende und irgendwie farbige Gesangslehrerin und ein gedrungener Mann mit Spitzbart und einem Scheitelwirbel, den offenbar keine Bürste zu bändigen vermochte. Sein Haar war blond und stark, seine Augen freundlich, ein wenig prüfend. Er war der einzige Maler, den die Großmama zuließ, er stellte die Beziehung zur künstlerischen Welt her, die von der Gesangslehrerin nicht genügend repräsentiert wurde. Die Großmama, lebensfrisch und amüsiert, pflegte manchmal von den Modellen zu sprechen, zu denen er sich wohl jetzt zurücksehne, dieweil er träumerisch-still unter uns saß. Er brummte ungehalten und geschmeichelt in seinen Bart und gab damit meiner Phantasie Nahrung: dieser struppige Kopf, an eine weiße Brust geschmiegt!

Der Maler gehörte genau wie die andern Gäste zum Ritus des sonntäglichen Besuches bei den

Großeltern. Schade hieß er, Karl Schade, und wenn andere Besucher dazukamen, hatte die Großmama ihre Freude daran, ihn sich selbst vorstellen zu lassen, denn jedermann, der höflich seinen Namen murmelte, war ein wenig erschrocken, wenn ihm der Maler mit dem Spitzbart laut ins Gesicht rief: „Schade!”, so, als ob er bedauere, des andern Bekanntschaft gemacht zu haben.

In der Villa der Großeltern hingen eine Menge Landschaften des Malers Schade: Schneewege im abendlichen Licht, eine einsame Laterne am Weiher, flammende Herbstwälder, Bäche und Brük-ken; immer waren es kleine, sehr intime Ausschnitte, niemals große Schinken mit umfassendem Anspruch, minutiöse und gleichsam atmende Fleckchen Erde, wie sie dem Auge nur des Liebenden begegnen. Man konnte an Kunstaufnahmen denken, doch war hier mehr eingefangen als das naturalistische Gegenstandsbild, eine Stimmung, ein bißchen Herz, gewissermaßen war das Lied der Lerche noch zu hören, oder das zwitschernde Raunen im Geäst, auch das Aroma des Buchenwaldes war da. Die Zeiten sind über solche Malkünste hinweggegangen, aber heute, mehr als ein Menschenalter später, wo alles versunken ist, was damals unzerstörbar und für ewig gegründet schien, heute mag man sich wiederum dieser Kunst des Innigen nähern, es ist schon historisch geworden und hat seinen Platz behauptet.

Im Wandern und Reisen hat dieser Freund der Nature Vivante sein ganzes Leben lang das Verborgene zu finden gewußt und mit Eifer festgehalten. Stundenlang stand er im klirrenden Frost, um ein Stück Winterwelt zu bannen, er stand in sich versunken, fror nicht, hörte nichts und aß nicht; die Landleute, so wird erzählt, trieben ihn einst mit Gewalt aus einer solchen Stellung auf, weil sie meinten, er müsse sonst erfrieren; mit Grobheit wollten sie sein Bestes bewirken; ihm aber war von der kalten Natur nicht das Geringste geschehen.

Er verdient es, daß sich unsere geborstene Welt mit seiner erinnere; ein weniges davon ist auch geschehen. Die Gemeinde Wien und Freunde, wie es solche kaum mehr gibt, nahmen sich seiner in bescheidenem Rahmen an. Als ich ihm einmal vor Jahren eine Photographie unserer längst verstorbenen Großmama gebracht hatte, nahm er sie in beide Hände und drückte sie an sein Herz, der Achtundachtzigjährige, und lächelte glücklich.

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