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Notlösung im Kreml

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Die Ära Andropow dauerte nur 466 Tage; zu kurz, um sich in späteren Zeiten an mehr zu erinnern, als daß der Nachfolger Leonid Breschnews vordem oberster Polizeichef gewesen war und daß unter seiner Parteiführung das Klima der Begegnung von Ost mit West weit unter den Gefrierpunkt gefallen ist.

Ist vom Nachfolger Konstantin Tschernenko, drei Jahre älter als Jurij Andropow, mehr zu erwarten als eine Fußnote in Geschichtsbüchern? Alter und neuer Kremlherr hatten und haben sich mit der von Breschnew hinterlas-senen Erbschaft auseinanderzusetzen: Militärisch muß die Sowjetunion mit jeder anderen Macht in der Welt zumindest gleichziehen; das erfordert individuelle Opfer, da eine ramponierte Wirtschaft nicht hergibt, was Untertanen und Generäle jeweils für sich beanspruchen.

Noch kann sich die Sowjetunion nicht allein ernähren, noch immer kann sie den Bürgern keinen angemessenen Lebensstandard bieten und die Technologie kreieren, die eine der führenden Militär-und Industriemächte der Welt benötigt.

Andropow hat sein Amt unter der Devise angetreten, den auf Beharrung ausgerichteten Sowjetstaat Breschnewscher Prägung aus der Erstarrung herauszuführen. An Breschnews. Bahre stand bereits ein kranker Mann mit vielen Ideen und ausreichendem Intellekt, um die Schwächen des Systems zu erkennen.

Es bedarf freilich übermenschlicher Kräfte, um den massiven und schwerfälligen Sowjetkoloß in Bewegung zu bringen. Es ist ein weiter Weg von der Erkenntnis, daß die Sowjetwirtschaft Dynamik und Wandel braucht, bis zur Verwirklichung — noch mehr für einen gesundheitlich angeschlagenen Politiker.

Wer wußte besser über Verschleuderung der ökonomischen Quellen, über vergeudete oder vergammelte Arbeitskraft, über den Hang zur Korruption das gesamte Gesellschaftsgefüge hinauf bis zur alten Garde Breschnews Bescheid, als der einstige KGB-Chef? Es blieb indessen bei der Beschneidung von Auswüchsen. Niemand wird wissen, wie sich der Reformer Andropow durchgesetzt hätte.

x Selbst der mächtigste Mann im

Sowjetstaate ist von den Zwängen, die ihm die Gesellschaft setzt, nicht frei. Auch er erfüllt die Funktion, die ihm das gesellschaftliche Autoritätssystem setzt. Das galt für Breschnew, für Andropow und das behält für Tschernenko Gültigkeit.

Jede Reform muß dort haltmachen, wo das System als solches und seine privilegierten Träger gefährdet sind. Die Schwerfälligkeit und Trägheit des Gesell-schaftsgefüges bietet gleichwohl auch seine Vorteile: Es funktioniert auch dann, wenn der oberste Führer ans Bett gefesselt ist - ein in der Sowjetunion schon seit sechs Jahren praktisch gegebener Zustand.

Es spricht für die hoffnungslose Statik des Apparates, daß sich das Politbüro nur auf den farblosen Apparatschik Tschernenko, der zudem der höheren Altersklasse der Gerontokratie im Kreml angehört, hat einigen können. Von diesem Bürokraten Impulse für die so nötige Wirtschaftsreform zu erwarten — mehr noch: wenigstens im Ansatz liberalistische Tendenzen und Verleihung der individuellen Freiheiten—ist so illusorisch wie die Suche nach Rosen in der sibirischen Heimat Tschernenkos.

Und warum sollte dem neuen Kremlführer glücken, was dem international erfahrenen Andropow mißlungen ist: echte Entspannung einzuleiten?

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die 15 Jahre Andropows als Chef des Geheimdienstes nachhaltiger wirken als die 15 Monate der Kremlführung. In diesen eineinhalb Jahrzehnten wurde der KGB-Apparat perfektioniert, durch Intrige, Desinformation, Subversion — und die Spritze des Nervenarztes so effektvoll arbeitend, wie es die Wirtschaft nie und nimmer zuwege bringt. Der einstige Liquidator der ungarischen Revolution hatte jedenfalls mit Gesinnungsgenossen Sacharows die geringsten Schwierigkeiten.

In den Beziehungen nach außen blieb Andropow der Erfolg versagt: Fehlschlag des Versuches, mit dem entfremdeten chinesischen Genossen wieder ins Reine zu kommen; ein Fehlschlag auch, die Abrüstungsgespräche anzufachen.

Letzten Endes beantwortete Andropow die Aufstellung der Pershing-Raketen und Marschflugkörper mit einer Vorverlegung der eigenen Raketenbasen. Das unausweichliche Resultat nach dem Zusammenbruch zweier Runden von Genfer Verhandlungen: Verhärtung hier wie dort. Höhepunkt der Verfahrenheit internationaler Begegnung: der brutale Abschuß der koreanischen Passagiermaschine im vergangenen September und die erbärmliche Reaktion des Kreml im Gefolge.

So regt sich denn am Grabe des nur kurz regierenden Andropow nicht so tiefe Trauer, wie noch bei Breschnews letztem Gang beobachtet werden konnte. Und die Hoffnung, daß es unter Tschernenko besser wird, will und will nicht aufkommen.

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