6888562-1979_37_13.jpg
Digital In Arbeit

Notwendigkeit und Chance einer Wende

19451960198020002020

Bis in die frühen siebziger Jahre war die Entwicklung der Industrieländer ziemlich kontinuierlich und relativ unproblematisch. Wirtschaftlicher Aufschwung wurde mit Fortschritt gleichgesetzt. Die Zukunft erschien als einfache Verlängerung der Gegenwart. Seit Beginn der siebziger Jahre hat sich die Situation entscheidend geändert: Fragen der grundsätzlichen Ausrichtung unseres Fortschritts treten in den Vordergrund.

19451960198020002020

Bis in die frühen siebziger Jahre war die Entwicklung der Industrieländer ziemlich kontinuierlich und relativ unproblematisch. Wirtschaftlicher Aufschwung wurde mit Fortschritt gleichgesetzt. Die Zukunft erschien als einfache Verlängerung der Gegenwart. Seit Beginn der siebziger Jahre hat sich die Situation entscheidend geändert: Fragen der grundsätzlichen Ausrichtung unseres Fortschritts treten in den Vordergrund.

Werbung
Werbung
Werbung

Wie ganz anders ist doch das geistige Klima der siebziger Jahre, wenn man es mit der Situation des Jahrzehnts davor - heute wäre man in mancher Hinsicht versucht, es die goldenen sechziger Jahre zu nennen - vergleicht.

Damals war der Glaube an die Machbarkeit der Dinge an seinem Höhepunkt angelangt, zum Teil aus durchaus verständlichen Gründen: Es sind die Jahre der atemberaubenden Weltraumerfolge; die Einführung der Computertechnik führt zu enormen Fortschritten besonders in der Wissenschaft; aus dem Bereich der Medizin kommen sensationelle Erfolgsmeldungen: Organtransplantationen werden immer öfter erfolgreich durchgeführt, ja es gelingt sogar, Menschen fremde Herzen einzupflanzen!

Vereinzelt zeigten sich schon Sprünge auf dieser glänzenden Oberfläche: In vielen Ländern kommt es 1968 zu Studentenunruhen; einzelne Stimmen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen weisen auf Gefahren für unsere Umwelt hin; in vielen Ländern kommt es 1967 zu einer Wirtschaftsrezession.

Man erkannte das Grundsätzliche dieser Anzeichen jedoch durchwegs noch nicht. Es überwog vielmehr der Eindruck, daß es sich um relativ leicht zu behebende Pannen eines letztlich tadellos konzipierten Systems handelte.

Und dennoch, wie sehr hat sich doch das Klima seither gewandelt! Die Titeln von Büchern, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, zeigen dies recht anschaulich: „Der Zukunftsschock”, .Fortschrittsglaube in der Krise”, „Die acht Todsünden der zivüisierten Menschheit”, „Ein Planet wird geplündert”, „Stirbt der blaue Planet?”,…

Bei diesen Arbeiten handelt es sich vorwiegend um wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit der längerfristigen Entwicklung der Welt und unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Welch gänzlich veränderte Einstellung kommt da plötzlich zum Ausdruck! Der Optimismus der ausgehenden sechziger Jahre ist von einer Haltung des Zweifels am weiteren Verlauf der Dinge abgelöst worden.

Vielfach nimmt eine regelrecht pessimistische Grundhaltung überhand. So führte der berühmte französische Dramatiker Eugėne Ionesco in seiner Rede anläßlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele 1972 unter anderem folgendes aus:

.. Unsere Zivilisation war auf der Suche nach dem Glück und hat nur Niederlage, Unglück und Tod erlitten. Ich bin ein Mensch unter drei Milliarden Menschen. Wie kann da meine Stimme gehört werden? Ich predige in einer überbevölkerten Wüste. Weder ich noch andere können einen Ausweg finden. Ich glaube, es gibt keinen Ausweg…”

Zweifellos ist die Menschheit heute mit einer Fülle von Problemen konfrontiert: Erdölkrise, Inflation, Arbeitslosigkeithaben dies auch weiten Kreisen der Bevölkerung bewußt gemacht. Wir dürfen also keineswegs die Augen vor der Krise verschließen. Vielmehr müssen wir uns eingehend und ehrlich mit den in nahezu allen Bereichen auftretenden, teilweise sehr ernsten Problemen auseinandersetzen:

Probleme der Umweltverschmutzung, der Energieversorgung, des allzu raschen Rohstoffabbaus, der Weltwährungsordnung, des internationalen Handels, der ins Uferlose steigenden Rüstung, des Hungers und der Not in den Ländern der Dritten und Vierten Welt, der zunehmenden Brutalisierung und Kriminalisierung in den Industrieländern, der steigenden Kinderfeindlichkeit, der immer mehr um sich greifenden Isolation des Menschen, der krank und selbstmordanfällig wird.

Eine solche redliche Besinnung wird uns sicherlich auf den Emst der heutigen Lage aufmerksam machen. Wir werden vor allem auch feststellen, daß viele Größen, auf deren Entwicklung wir bisher stolz waren, stagnieren, ja teilweise rückläufig sind: die Lebenserwartung der Männer stagniert bzw. war schon in manchen Jahren rückläufig, die Wirksamkeit unserer wirtschaftlichen Anstrengungen sinkt ebenso wie die Zahl der neuen Patente und Lizenzen (trotz steigender Forschungsaufwendungen).

Wichtig ist hier der Hinweis, daß die Krisensymptome durchaus nicht nur im Westen festzustellen sind. Auch der Ostblock ist von diesen grundsätzlichen Problemen betroffen. So stellte US-Präsident Jimmy Carter im Anschluß an das letzte Gipfeltreffen fest:

„Als ich aber mit Breschnew das SALT-Abkommen besprach …, stellte ich fest, daß sie dort ähnliches erleben wie wir in der westlichen Welt: eine allgemeine Malaise, eine Unzufriedenheit mit dem Lauf der Welt, einen Zerfall der Gemeinschaft. …, wobei viele Menschen in Sorge über den Zerfall traditioneller Werte sind.”

Gar mancher wird sich bei der Aufzählung all dieser Probleme verzagt fragen: „Ist da noch überhaupt irgend etwas zu wollen? Muß das nicht unweigerlich in der Katastrophe enden?” Die letzte Frage läßt sich rundweg mit „Ja” beantworten - allerdings nur dann, wenn wir fortfahren, uns nur mit kurzfristig bedeutsam erscheinenden Alltagsproblemen herumzuschlagen und dabei versäumen, uns mit grundsätzlichen Fragen auseinanderzusetzen. Hier herrscht ein enormes Defizit, das abgebaut werden muß!

Ein entscheidender Schritt in diese Richtung wird die Abkehr von dem gegenwärtig noch allzu stark dominierenden pragmatischen Denken sein. Dieses Denken war kennzeichnend für die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg: Man hatte mehr als schlechte Erfahrungen mit Ideologien gemacht, die Zerstörungen aus der Kriegszeit und die Not der Nachkriegsjahre rückten ein einziges Ziel ins Zentrum aller Anstrengungen: den Wiederaufbau, die Herstellung eines ausreichenden Lebensstandards für alle.

Wirtschaftswachstum wurde mit Fortschritt gleichgesetzt. Damit war die langfristige Marschroute festgelegt und der Schwerpunkt der Überlegungen und Auseinandersetzungen verlegte sich auf den taktischen Bereich, in dem man je nach Sachlage pragmatisch entschied.

Nun aber erweist sich das bisherige Fortschrittskonzept (jährlich ein paar Prozent mehr für die Wirtschaft) als unzureichend. Der bisher geübte Zugang, pragmatisch die Zukunft zu entwerfen nach dem Motto „Morgen = heute + 5%” funktioniert nicht mehr. Es genügt gewissermaßen nicht, „einen Präventivkrieg gegen das Kommende zu führen, um es zugunsten des heutigen Istzustandes zu kolonialisieren”, wie der französische Kommunist Roger Garaudy sagt. Wir brauchen Leitbildvorstellungen für die Zukunft, die umfas-

sender sind als unser bisheriges Fortschrittskonzept.

Daher ist es auch verständlich, daß von überall her der Ruf nach neuen Orientierungspunkten, nach neuen Werten laut wird. Hier sei als einer von vielen, die dieselbe Forderung erheben, Georg Picht zitiert, der in seinem Buch „Mut zur Utopie” folgenden Satz schreibt: „Die Menschheit wird ihre Zukunft nur durch einen moralischen und geistigen Durchbruch erobern können, für den es in der bisherigen Geschichte kein Vorbüd gibt…”

Wir haben einen Nachholbedarf, was die Beantwortung von Sinnfragen anbelangt, wir stecken mitten in einer Orientierungskrise. Und hier sehe ich die eminente Chance der Christen in der heutigen Zeit. Sie wüßten nämlich die passenden Antworten. Denn das christliche Wertesystem erweist sich bei eingehender Analyse als durchaus geeignet, Orientierungspunkte für die Bewältigung der Krise in unseren Tagen zu markieren. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich Glauben und Wissenschaft wie zwei unversöhnliche Feinde gegenüberzustehen schienen.

Worum es heute allerdings vor allem geht, ist das Problem, diese Antworten in die überall laufende Diskussion einzubringen. Die Bereitschaft, auch über das Rationale hinausgehende Überlegungen anzustellen, ist durchaus gegeben. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten, die es zu nutzen gilt. Dies wird vor allem dann möglich sein, wenn wir uns unvoreingenommen und umfassend mit den Problemen unserer Zeit auseinandersetzen, in einer breiten Diskussion Glaube und Wissenschaft verbinden und unsere Lösungsvorschläge in der Sprache unserer Zeit formulieren lernen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung