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„Nun löst mir Kleid und Schuhe“

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Wenn man die leeren Zimmer durchschritt, spürte man mit einem Male den Verlust. Die Nachricht vom Tode Gertrud von le Forts am Allerheiligentag hatte etwas Unwirkliches. Dieses Fest der „triumphierenden Kirche“, jener Kirche, deren Gemeinschaft der Heiligen die Garantie eines „Bleibens im Scheiden“ besitzt, übertönte die Trauer. Erst hier am Schreibtisch, in der Bibliothek, vor den Bildern ihres Heimes empfand man, daß Sie nicht mehr da war. Ruhig war sie eingeschlafen. Die letzten Stunden am Vormittag wußte man nicht recht, schlief sie oder war sie schon jenseits. Die letzten Monate hatte sie ihre Besuche nur noch am Bett empfangen. Die Blumen, mit denen sich die Dichterin immer umgeben hatte, blühten noch, und die Sonnenstrahlen fielen vom Balkon herein auf sie. Und doch, seit man sie hinausgetragen hatte, fehlte etwas spürbar.

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Wenn man die leeren Zimmer durchschritt, spürte man mit einem Male den Verlust. Die Nachricht vom Tode Gertrud von le Forts am Allerheiligentag hatte etwas Unwirkliches. Dieses Fest der „triumphierenden Kirche“, jener Kirche, deren Gemeinschaft der Heiligen die Garantie eines „Bleibens im Scheiden“ besitzt, übertönte die Trauer. Erst hier am Schreibtisch, in der Bibliothek, vor den Bildern ihres Heimes empfand man, daß Sie nicht mehr da war. Ruhig war sie eingeschlafen. Die letzten Stunden am Vormittag wußte man nicht recht, schlief sie oder war sie schon jenseits. Die letzten Monate hatte sie ihre Besuche nur noch am Bett empfangen. Die Blumen, mit denen sich die Dichterin immer umgeben hatte, blühten noch, und die Sonnenstrahlen fielen vom Balkon herein auf sie. Und doch, seit man sie hinausgetragen hatte, fehlte etwas spürbar.

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„Nun löst mir Kleid und Schuhe und macht mich wieder arm und bloß“, dichtete sie im „Dreiklang“, wo sie sich für die „tiefen Grüfte“ bereitmacht: „Ich beug mich ohne Zagen zu ihrem blumenschweren Rand“, liest man in der letzten Strophe. Diese Blumen fand man wieder vor dem Altar, an dem der Bischof von Augsburg das Requiem zelebrierte, und ein Meer von Blumen schmückte die Totenhalle und das Ehrengrab. Der Ministerpräsident von Bayern war persönlich gekommen, um den ersten Kranz niederzulegen, mit Worten, die daran erinnerten, welche Kraft von der Sprache der Dichterin „auf unsere Jugend“ ausstrahlte, weil sie dem „Logos“ verpflichtet war. Der Bürgermeister von Oberstdorf schloß sich an und gedachte des „Gesanges aus den Bergen“.

Zur Kur war sie nach den Kriegsjahren, nachdem sie in der Schweiz ein Herzleiden überwunden hatte, in diesen Ort des südlichen Allgäu mitten in den Bergen gekommen und dann einfach dageblieben. Die „blauen Glocken des Himmels, die goldenen Becher der Sonne, die Sternenwunder der Moose“ hatten sie hier „Wurzel schlagen“ lassen, hier „an der Grenze des Menschen, am Rande der Erde beim adligen Schweigen der Steine“. Le Fort hatte ein tiefes Verhältnis zu den Bergen, in deren Licht sie sich immer wieder verlor, obwohl sie aus der Ebene, aus Boek am Müritzsee in Mecklenburg, stammte. Während der Blick von den Blumen hinauf zu den in der Abendsonne verglimmenden Bergspitzen wanderte, man nur noch mit halbem Ohr die anderen Redner hörte — der Präsident der bayrischen Akademie der schönen Künste H. E. Holthusen, Theodorich Kampmann von der Uni versität München, deren Ehrendoktor die Verstorbene war, der Kulturstadtrat von München, ihr Verleger Ehrenwirth u. a. sprachen noch — drängte sich der Vers des gleichen Gesanges auf die Lippen: „In der durchgeistigten Nacht gehen die Toten auf wie unsterbliche Sterne.“ Das Allerheiligenfest gewann wieder Oberhand und der Tod wurde unwirklich.

Der Bischof hatte in seiner Ansprache beim Requiem an die Kirche erinnert, die die „Hymnen an die Kirche“, ihr erster großer Durchbruch zur Dichtung, besingen, die Epistel prophezeite das Neue Jerusalem der Geheimen Offenbarung, das Evangelium die Auferstehung. „Der Dom“ war ihre letzte Novelle. Ihr liegt eine wahre Begebenheit zugrunde, von der die Dichterin berichtet, wie sie versehentlich einmal in den Magdeburger Dom eingeschlossen wurde und sich ihr das Bild der allumfassenden Kirche aufdrängte: die Einheit nicht nur aller Christen, sondern aller Menschen guten Willens, der Lebenden und auch Toten. Der strahlende Herbstnachmittag „leuchtend wie aus dem Jenseits der Räume“, die Farbenpracht der Bäume und Kränze „strahlten das göttliche Schöpfungswort — das erste — das letzte — das einzig-ewige wieder: Es werde Licht!“ und verklärten in einem mit der in der Kirche geeinten Menschheit die irdische Welt.

Man vergesse aber nicht, daß dieses Leuchten über einem offenen Grab stand und über Menschen, die einen schweren Verlust betrauerten. Kein billiger Enthusiasmus, der sich über die lastende Realität hinwegtäuscht. Das war auch die Intention der Dichterin. Sie singt wohl „Hymnen“, doch ihre Verse brechen aus einer tiefen Wunde im Geist: „Ich bin in das Schwert deines Glaubens gefallen.“ So sehr sie den Glauben an den lichten Morgen verkündet, so sehr war sie in die Nacht dieses Glaubens hinabgestiegen. „Unser Weg durch die Nacht“, heißt eine der schönsten Reden le Forts nach dem Krieg, in der sie die schlimmen Jahre rekapitulliert. Das „Lyrische Tagebuch aus den Jahren 1933 bis 1945“ zählt zu ihren stärksten Dichtungen: „Nahe mir, Verzweiflung … Nur der Geopferte trägt den Kranz des Geweihten.“ Ihr persönlicher Glaube wurde bis zur Zerreißprobe geprüft.

Man wollte sie, die Konvertitin, die zur Kirche gefunden hatte, auf den Index setzen, man verleumdete sie, weil sie eine Kirche schilderte, die auf Erden alles andere als eine „triumphierende“ ist. Erinnern wir uns an den unseligen „Widerstreit der Meinungen“, den ihr „Kranz der

Engel“ ausgelöst hatte. „Glauben Sie nichts von dem, was man über mich und angebliche Aussprüche von mir verbreitet“, bat sie mich damals voller Sorge. Ihre berühmten Romangestalten stehen alle unter dem Zeichen des Opfers, der Tragik, des Kreuzes: die kleine Karmelitin

Blanche de la Force aus „Die Letzte am Schafott“, die katholische Exzellenz Tilly aus der „Magdeburgischen Hochzeit“, die „Jungfrau von Barby“, Bice „die Tochter Farinatas“ und vor allem Veronika aus dem zweibändigen „Schweißtuch der Veronika“. Gerade sie ist heute aktueller denn je. Was sie im „Kranz der Engel“, dem zweiten Band, durchlitt, ist unser heutiges Schicksal in einer Art und Weise, wie es die Dichterin zur Zeit der Abfassung selbst nicht ahnen konnnte, aber später, z. B. während der Niederschrift der Novelle „Am Tor des Himmels“, erfahren mußte. Oft bleibt für den Gläubigen nichts anderes als der Wahlspruch der sterbenden Großmutter, dieser faszinierenden Heidin aus dem „Schweißtuch“: „Charakter und Schweigen“. Die Frage nach dem Kreuz Christi, wie sie der „Papst aus dem Getto“ formuliert, wird eben an die Kirche selbst, an ihr Haupt, den Papst, an jeden einzelnen Menschen gerichtet, zum Zeichen des Falles oder der Auferstehung.

„Alles verharrt nur durch Liebe im Sein“, lautet ein Vers des „Drei klangs“. Hier liegt das Dunkel und Licht durchwirkende Prinzip. Ihre Gestalten, vor allem und hauptsächlich sind es Frauen, leben davon, sie sind Inbilder der Mutter Kirche: die einfältig weise Jeanette des „Schweißtuches“, die leidenschaftliche Arabella aus „Plus Ultra“, die leidgeprüfte Jüdin Mirjam des „Papstest aus dem Getto“, die stolze Protestantin Erdmuth der „Magdeburgischen Hochzeit“, die „Frau des Pilatus“ als Heidin, ja auch sie, die „außerhalb“ stehen. Mit ihrer Konversion hatte le Fort keineswegs alle Brücken hinter sich verbrannt, sondern ihre Eingliederung in das Corpus Christi Mysticum der Kirche, sollte eine solche Brücke sein zu allen Menschen guten Willens. Dadurch gewann ihre Dichtung einen weiten, offenen Charakter, sie war eine „offene“ Konvertitin, die die Mannigfaltigkeit menschlichen Denkens und Ringens bejaht.

Hier ist sie Schülerin ihres großen Lehrers Emst Troeltsch. Sie vermag mit allen Andersdenkenden im Gespräch zu bleiben und sich auch ungelösten Fragen anzuvertrauen, gerät nicht in unnützen Streit mit der Freiheit des Denkens, denn „die Freiheit des Denkens ist nicht gefährlich, aber der Streit ist es“; sie verfällt nicht dem doktrinären Radikalismus eines totalitären Systems, geht weder mit Indizierung noch mit Taufwasser gedankenlos um. „Die ganze Abgründigkeit des Menschen kennen und dennoch lieben“, schrieb sie in „Unser Weg durch die Nacht“, das ist die Formel, mit der die Kirche, d. h. Christus die Menschen liebt und daher auch jeder Christ lieben soll. Diese Liebe ist wahre Liebe zu Gott. So kann le Fort schreiben: „In dieser widerstrebenden und widerstreitenden Welt ist niemals ein Geschöpf so geliebt worden wie der Schöpfer. Wenn man die zersplitterte Liebe der ganzen Menschheit zusammentrüge und schiede in ihr die Liebe zu Gott von jeder anderen Liebe, so würde diese Liebe jede andere übersteigen“, sagt P. Angelo zu Veronika.

„Nun löst mir Kleid und Schuhe.“ Die Stimme dieser Dichterin ist verstummt. Vielleicht kommt noch einmal ihre Zeit. Hier in der kleinen Wohnung spürt man schmerzlich das „undurchdringliche Schweigen“, erst recht dann, wenn man daran denkt, daß nun alles aufgelöst werden soll, und damit eine ganze Epoche zu Ende geht. Noch zu ihren Lebzeiten wollte der Hausherr die Neunzigjährige kündigen. Die Zeit und ihre Zeitgenossen sind oft von einer Verständnislosigkeit, die erschauern macht. Jetzt ist die Auflösung nicht mehr aufzuhalten. Vor dem Haus das allerletzte Leuchten der Berge. „Die Abendröte von einer Sonne, die noch lange nachscheint“, sagte einmal der Vormund zu Veronika und sie antwortet: „… und einen Morgen verbürgt.“ Unterdessen geht diese Tote auf wie ein unsterblicher Stern.

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