6805318-1972_04_01.jpg
Digital In Arbeit

Nur eine Buchhaltung in Brüssel?

19451960198020002020

Sozusagen über Nacht ist Europas Wirtschaftsgemeinschaft in einem mächtigen Entwicklungssprung um fast 60 Prozent an Territorium, um 36 Prozent an Bevölkerung angewachsen. Nach der Einigung mit den vier beitrittswilligen Partnern ist aus der Sechsergemeinschaft eine Zehnergemeinschaft geworden — sofern es bis zum offiziellen Beitrittstermin keine Pannen gibt.

19451960198020002020

Sozusagen über Nacht ist Europas Wirtschaftsgemeinschaft in einem mächtigen Entwicklungssprung um fast 60 Prozent an Territorium, um 36 Prozent an Bevölkerung angewachsen. Nach der Einigung mit den vier beitrittswilligen Partnern ist aus der Sechsergemeinschaft eine Zehnergemeinschaft geworden — sofern es bis zum offiziellen Beitrittstermin keine Pannen gibt.

Werbung
Werbung
Werbung

Aber die bloße Addition allein macht noch keinen Gewinn aus. Die EWG ist zwar in die Phase getreten, wo sie unbestritten den ersten Part für Europa im weltweiten machtpolitischen Geflecht der Stimmen spielen darf; und in der sie auch durchaus wirtschaftspolitische Normen des Wohlverhaltens für alle übrigen Westeuropäer diktieren kann: ihre inneren Schwierigkeiten im europäischen Kraftfeld aber werden durch die Vergrößerung nicht geringer, sondern wachsen an.

Was heute geboren wird, ist auf dem Weg, ein verkrüppelter Riesenmoloch zu werden. Der Bürokratismus der Zehner-EWG muß angesichts der Ausnahms-Rücksichts-und Vorsichtsregeln noch größer werden; die schon heute von ernstzunehmenden Nationalökonomen als Wahnsinn bezeichnete Agrarmarkt-ordnung hat die Tendenz, Musterschutz zu genießen; und die Vertragswerke wachsen sich auf ausgedehnte Bibliotheken aus.

Dennoch — oder gerade deshalb wäre die Stunde gekommen, doch einige grundsätzliche Fragen zu stellen. Will man eine große Buchhaltung aus Europa machen oder wäre es jetzt an der Zeit, den Europäern endlich die Dimension aufzuzeigen, die sie ausfüllen sollen?

Freiwilligen Souveränitätsverzicht hat es in der Staatengeschichte höchst selten gegeben. Die Gründung des Deutschen Reiches vor nunmehr 100 Jahren geschah unter dem Kanonendonner von Sedan und unter dem Hurrageschrei eines romantischen Nationalismus im Nachholverfahren. Die Formierung der Eidgenossenschaft zur modernen Schweiz brauchte Jahrhunderte, geschah stets unter äußerem Druck und war nicht selten gewaltsam. Freilich: was gilt die klassische Souveränität heute noch, da die Großen die Kleinen erpressen, aber selbst die Kleinen durchaus auch die (oft wenigstens moralische) Möglichkeit der Erpressung der Großen in der Hand haben? Dazu kommt ein Prozeß der Bildung ökonomischer Machtzentren im Weltmaßstab neben angeblich souveränen Regierungen — kurzum: wir erleben einen Prozeß, den Hans Blank treffend als „Refeudalisierung“ bezeichnet und der die Relativität noch klassisch autonomer Gemeinschaften auf nationaler Ebene umschreibt.

Und daher gilt es tatsächlich, den stets in der Realität nationalistisch verbogenen Souveränitätsbegriff endlich zugunsten eines europäischen Bewußtseins abzubauen.

• Wir bewegen uns ja schon heute in Europa auf eine Art Konsumkultur zu, die zum Teil nicht mehr das Etikett „nationaler“ Kultur trägt; Die Massenmedien internationalisieren, wie die Fließbandübersetzungen, jedes nur einigermaßen interessante Werk der Literatur, ebenso wie die Schnulzenschlager im Sprachmischmasch.

• Der Traditions-Nationalismus baut sich im Bewußtsein der breiten Mitte der europäischen Bevölkerung auf das Territorialprinzip ab; auf Minderheiten vergessen die neuen Eurpäer gern. Dennoch sind wir noch nicht weit gekommen bei der Erforschung des Vorurteils — der Quelle jedes Chauvinismus.

• Zu dem kommt die Isolierung, in die die europäische Demokratie inmitten einer Welt der Militärregime, Diktaturen und sogenannten Klassenherrschaften geraten ist. Das gewachsene Selbstverständnis gewisser Grundwerte demokratischen Lebens bindet. Und die Europäische Konvention der Menschenrechte hat doch wachsende Chancen, in einer Reihe von Ländern auf immer breitere Zustimmung in der öffentlichen Meinung zu stoßen — mit anderen

Worten: die antidemokratische Rechte und Linke erfährt Abfuhren breiter Wählermassen. Um so trister ist die Tatsache, daß die Selbstverständlichkeit dieser Menschenrechte in Europa institutionell noch immer nicht überall anerkannt ist. Abseits dessen zeigt sich aber in ganz Europa ein Trend, den die Parteien der Mitte entwickeln und der eine Demokratisierung — sprich: Mitbestimmung und Mitbeteiligung — in verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens einschließt. Diese Entwicklung tendiert zur Entdeckung neuer Wertvorstellungen, die weitgehend eine einheitliche spezifisch europäische Entwicklung erfahren.

• Parallel damit vollzieht sich eine sozio-ökonomisohe Strukturähglei-chung: nicht nur im Bereich der Wirtschaftspolitik — sondern im Habitus, der sich in einem Hemd aus England, Schuhen aus Italien, einen Anzug aus Frankreich und der Krawatte aus Deutschland an ein und demselben Homo Europaens sichtbar macht. Das, nebst unverzichtbaren Fremdarbeitern und dem Sommerurlaub baut immer mehr den Nationalismus ab — und nicht die „Umgestaltung der Gesellschaft“ in Richtung auf eine „Reduzierung der allgemeinen Frustration“, die die Ursache feindseligen Verhaltens gegen andere nationale Gruppen ist — wie etwa Newcomb und linke Dialektiker allzuschnell behaupten.

Wozu es aber jetzt kommen muß, ist nicht sosehr nur die emotionelle Annäherung — was wir brauchen, ist eine handfeste europäische Zielvorstellung. Welche Rolle soll diese (vorläufig nur als Markt zu bezeichnende) Quantität von 250 Millionen — samt den noch außerhalb stehenden acht Ländern diesseits des Eisernen Vorhangs spielen? Genügt der Nachvollzug eines sogenannten christlichen Abendlandes mit ein wenig Carolus Magnus, Karl V. und Voltaire? Soll Europa eine Mission für die armen Entwicklungsländer in der Welt erfüllen — oder gar eine antikommunistische Befreiungsideologie entwickeln? oder etwa schlechthin als Ziel eine Hegemonie in der Welt anstreben — weißer Chauvinismus gegen die Braunen, Gelben und Schwarzen?

Tatsächlich: eigentlich ist niemandem bewußt, was dieses Vereinte Europa eigentlich soll. Jeder will, daß es offenbar so bleibt — ein fatales Zukunftsbild an der Wiege einer neuen Epoche.

Was Europa braucht, ist mehr als nur die Angst vor dem Verlust. Die Menschen dieses Kontinents werden selbst klarstellen müssen, welches Ziel sie anpeilen. Sonst bleibt nur eine große Buchhaltung in Brüssel übrig.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung