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Nur Exodus

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Man muß, wie die Praxis in den meisten osteuropäischen Ländern zeigt, die Juden.nicht erst ermorden, um sie langsam aber sicher zu vernichten. Wirtschaftsbarrieren verhindern die freie Entfaltung ihrer angeborenen Tüchtigkeit, freie Auswanderung ist nicht gestattet oder, wenn überhaupt, dann nach Hinterlassung aller Habe. Die Beschaffung der Ausreisepapiere verschlingt das letzte Geld. Entführungen und Attentate auf dem Weg nach Israel sollen für Einschüchterung und Verzweiflung sorgen. Und die in der osteuropäischen Heimat Zurückbleibenden stehen vor einer unsicheren Zukunft, vor dem langsamen Aussterben. Zu diesem deprimierenden Schluß sind Kapazitäten wie der ehemalige Unterstaatssekretär im Washingtoner Außenmdnisterium,. Eugen W. Rostow, Universitätspro-fessor Dr. Zwi Gitelman und das Amerikanische Jüdische Komitee in ihren kürzlichen Publikationen gleicherweise gekommen.

Die jüdischen Gemeinden in Polen, Bulgarien und in der CSSR befinden sich denn auch tatsächlich im letzten Stadium ihrer Existenz als organisierte Einheiten. Jugoslawiens Juden entfalten noch ein wenig mehr Lebenskraft. Zahlenmäßig ist Ungarns und Rumäniens Judentum stärker und aktiver, aber die demographische Kurve senkt sich nach unten. „Es ist der Punkt erreicht, nach dem es nicht mehr möglich sein wird, von einer Zukunft des jüdischen Lebens in diesen Ländern zu sprechen“, wie Professor Gitelman feststellte.

Für das jüdische Volk und die jüdische Zivilisation war die vergangene Dekade in Sowjeteuropa eine traurige Periode. Da Hitlers Geist bekanntlich im Führerbunker nicht starb, blieb die Auswanderung als einzige, relativ günstige Möglichkeit für das sowjeteuropäische Judentum übrig. Für das einzelne Individuum bedeutet Emigration allerdings nicht immer die günstigste Lösung. Aber die Möglichkeit, in Osteuropa „ein jüdisches Leben zu leben“ wird immer geringer. Nationale KP-Diktatur und internationale politische Entwicklung beeinflussen die momentane und die zukünftige Situation der Juden in Osteuropa. Experten zufolge sind es vier Faktoren, die in den kommenden Jahren Lage und Zukunft der Juden in Ost-

europa am stärksten beeinflussen werden:

• Israel und der Mittelostkonflikt;

• die Ost-West-Beziehungen;

• der Vatikan und andere internationale, religiöse Gemeinschaften und schließlich

• die kommunistischen Parteien und die radikalen Bewegungen.

In der Sowjetunion ist die Zahl der Juden zwar noch hoch, doch werden sie dort zweifellos dasselbe

Schicksal erleiden, wie ihre Brüder in anderen osteuropäischen Ländern. Um die Emigration muß ein unermüdlicher Kampf geführt werden, der nur für wenige mit Erfolg endet.

In Polen leben nur noch 8000, meist ältere Juden. Es besteht keine Aussicht auf ein echtes Gemeindeleben. Aus Staatsstellen und Ämtern wurden die Juden im Verlauf zahlreicher Säuberungen entfernt. In den Jahren 1968 und 1969 fand eine Massenemigration statt. Juden, die Juden bleiben wollen, haben keine andere Wahl, als den Wanderstab zu nehmen, falls ihnen dies möglich ist.

In der CSSR gibt es noch ungefähr 10.000 Juden. Ihre Aussichten sind ungünstig. Am ehesten noch in der Slowakei können die Juden ein religiöses und kulturelles Leben führen. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen schließt die Prager Regierung die Möglichkeit einer Auswanderung nicht aus. Doch wird Assimilation empfohlen, was zahlreiche Mischehen zur Folge hat.

Ähnlich ist die Lage in Rumänien. Hier leben die meisten Juden

Osteuropas. Ungefähr 100.000 an der Zahl. Das religiöse und kulturelle Leben wird auf einer breiteren Grundlage geduldet. Der Oberrabbiner durfte sogar demonstrativ in die Große Nationalversammlung „gewählt“ werden. Eine Emigration nach Israel wurde ratenweise erlaubt. Zwischen Israel und Rumänien wurden die Wirtschaftsbeziehungen auf breiter Basis entwik-kelt. Interessanterweise pflegt ein viel größerer Prozentsatz der jüdischen Jugend die religiösen und kulturellen Traditionen der Vorfahren als in anderen osteuropäischen Ländern. ■ - i, Von einer Million Juden sind in

Ungarn 75.000 bis 80.000 geblieben, in der Mehrzahl ältere Leute. Dementsprechend ist das religiöse Leben lebhaft, und da viele gutgeschulte jüdische Fachleute in der Staatswirtschaft lukrative Positionen innehaben, ist die finanzielle Lage des ungarischen Judentums die relativ beste innerhalb Sowjeteuropas. Ungarische Juden sind in internationalen Schnellzügen und im eigenen Auto auf den Autobahnen anzutreffen, ganz im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Juden, aber auch sie leben unsicher, weil sie die Parteimethoden fürchten und ihre Sympathie für Israel tief im Herzen verbergen müssen.

An Samstagen freilich erscheinen hunderte Juden in der Synagoge an der Dohäny-Utca und tausende feiern die großen Feiertage. In Budapest gibt es zwei jüdische Museen, ein rabbinisches Seminar und ein jüdisches Gymnasium. Das Seminar ist allerdings ein bloßes Relikt aus reicherer Vergangenheit — es hat einen einzigen Hörer.

In Bulgarien sind 10.000 Juden ge-

blieben. Ihr Wunsch nach Auswanderung ist gering. Nur die älteren Leute haben noch ein „jüdisches Selbstbewußtsein“.

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es eine große Emigrationswelle, wodurch die Zahl der bulgarischen Juden sehr dezimiert wurde. Die im Lande Verbliebenen sind politisch straff integriert. Es gibt eine jüdische Zeitung in bulgarischer Sprache. In einer Vorstadt von Sofia besitzt die jüdische Gemeinde ein repräsentatives Gebäude. Das religiöse Leben ist verarmt, sieht man ab von ein paar alten Sephardim, die

an den religiösen Traditionen festhalten.

Auch in Jugoslawien leben heute weniger als 10.000 Juden, darunter zahlreiche Sephardim. Vor dem Krieg waren es ihrer auch nicht mehr als 65.000. In den Republiken Kroatien und Slowenien existiert kein jüdisches religiöses Leben mehr. Eine •gewisse kulturelle und soziale Aktivität ist in Belgrad noch konstatierbar. Die Juden genießen relative Freiheit, was Auslandsreisen anbelangt. Auswandern wollen jedoch nur wenige.

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