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Die österreichische Bundesverfassung ist innerlich und äußerlich eine Ruine. Ihr Institutionen-gefüge entstammt der Dezemberverfassung 1867 der konstitutionellen Monarchie: ihr Text ist durch eine Unzahl metastasenartig wuchernder Novellen und abseitiger Verfassungsnormen zum juristischen Irrgarten geworden; ihre „Baugesetze oder Grundprinzipien” sind von der gesellschaftlichen Wirklichkeit überspielt; substantielle Sanierungen bleiben aus.

Die Flucht in Scheinreformen verschärft die Lage. Zwar ist die

Notwendigkeit einer Gesamtreform seit langem erkannt; dieser Erkenntnis aber folgten keine Taten.

So kündigte in einer Sitzung des Ministerrats vom 27. Jänner 1975 der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky, der Verfassungsminister, endlich eine Gesamtreform der Bundesverfassung und die Bildung einer parteipolitischen Arbeitsgruppe an, die zunächst einen dem Bundesvolk zur allgemeinen Stellungnahme vorzulegenden Fragenkatalog nach Schweizer Vorbild ausarbeiten sollte.

Ein Jahrzehnt ist seither vergangen, ohne daß ein solcher Fragenkatalog dem Volk bekanntgeworden wäre. An die Stelle der Befragung des Volkes traten hingegen abseits von der Volksöffentlichkeit ausgeheckte Alibiaktionen teils bedeutungslosen, teils geradezu schädlichen Charakters.

Statt demokratischer Verfassungspolitik wurde Kabinettsle-gistik geübt. Unter der Weisungsgewalt eines Staatssekretärs arbeitet der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes — einst eine große verfahrungswahrende Institution - als emsiger Besorgungsgehilfe dieser volksfernen Strategie.

Konsequentester Ausdruck der eben bezeichneten Strategie ist die österreichische Menschenrechtspolitik. Weil die demokratische Republik seit ihrer Gründung im Jahre 1918 bis zur Gegenwart nicht die politische Kraft gefunden hat, einen modernen Grundrechtskatalog zu schaffen, gilt heute noch im wesentlichen der vom monarchischen Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger beherrschte Grundrechtskatalog, ergänzt durch andere veraltete oder mit tagespolitischer Beiläufigkeit hingeworfene Grundrechtstrümmer.

Daneben steht legistisch unver-bunden und weithin unerfüllt das nach dem 2. Weltkrieg geschaffene und auch von Österreich als völkerrechtliche Verpflichtung übernommene internationale Menschenrechtsgut. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ist nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung überhaupt keine anwendbare Rechtsnorm.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist zwar mit einer sechsjährigen, bezeichnenderweise durch ein im allgemeinen als geradezu provokant empfundenes Verfassungsgerichtshoferkenntnis verursachten Verspätung im Range eines Bundesverfassungsgesetzes in innerstaatliche Geltung, doch vermag sich der Einzelmensch noch immer nicht auf alle ihre Bestimmungen zu berufen; das schon deshalb nicht, weil Österreich dazu unzeitgemäße Vorbehalte erklärt hat.

Die sogenannten „sozialen Grundrechte”, die durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte mitumfaßt werden, sind zwar von Österreich innerhalb des europäischen Regionalsystems durch den Beitritt zur Europäischen Sozialcharta völkerrechtlich als Verpflichtung übernommen worden. Die innerstaatliche Erfüllung dieser Verpflichtung aber wurde im Wege der sogenannten speziellen Transformation innerstaatlichen Gesetzen vorbehalten.

Daß die Grundrechtsreform von allen notwendigen Reformerfordernissen die vordringlichste ist, war schon in den ersten Jahren der Ersten Republik klar. Von Bundeskanzler Josef Klaus wurde im Jahre 1964 nach zwei Sitzungen eines vorbereitenden Arbeitskreises vom 29. November 1962 und 15. Mai 1963 ein Expertenkollegium für die Neuordnung der Grund- und Freiheitsrechte eingesetzt, dem Vertreter der im Parlament vertretenen politischen Parteien, der Rechtsberufe und der Wissenschaft angehörten.

Seit 1974 war ein aus diesem Expertenkollegium emporgewachsenes Redaktionskomitee damit beschäftigt, die Beratungsergebnisse in präzise Formulierungen zu gießen. Mit der 94. Sitzung wurde die Arbeit dieses Komitees am 14. November 1983 abgeschlossen.

Als Mitglied des Expertenkollegiums und des Redaktionskomitees von allem Anfang an habe ich innerhalb dieser Kollegien immer wieder auf die vom demokratischen wie menschenrechtspoliti-schen Standpunkt aus unfaßbare Tatsache hingewiesen, daß die Öffentlichkeit weder über den Inhalt noch über die Zielrichtung der Arbeiten der Kollegien hinreichend informiert wurde, nicht einmal der Nationalrat wurde über den Stand der Arbeiten inhaltlich informiert.

Am 4. August 1983 erklärte Bundeskanzler Fred Sinowatz in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung:

„Wie in der Regierungserklärung ausgeführt wurde, wird die Bundesregierung nach geeigneten Wegen suchen, um unter Verwertung der bisherigen Arbeiten der Grundrechtsreformkommission sobald wie möglich eine konsensfähige Regierungsvorlage im Hohen Haus einbringen zu können. Als einen solchen geeigneten Weg sehe ich die Einsetzung einer Kommission an, die naph politischen Gesichtspunkten zusammengesetzt ist und über die in Vorschlag gebrachten Lösungsvarianten zu befinden haben wird”.

Am 30. November 1983 erklärte Sinowatz in einer weiteren parlamentarischen Anfragebeantwortung, er werde sich bemühen, die politische Kommission „in Kürze” einzuberufen. Laut „Wiener Zeitung” vom 26. Jänner 1985 erklärte der zuständige Staatssekretär Franz Löschnak, die „politische Kommission zur Reform der Grund- und Freiheitsrechte” werde nun „starten”, sie werde sich allerdings nur „schrittweise” vorwärts bewegen, hiebei aber besonderes Gewicht auf eine öffentliche Diskussion legen.

Wer die „Verfassungsreformen”, die im Verantwortungsbereich des erwähnten Staatssekretärs bearbeitet wurden, laufend verfolgt hat, darf nicht damit rechnen, daß Österreich in absehbarer Zeit einen geschlossenen modernen Grundrechtskatalog haben wird.

Und was die Staatspraxis der Nichterfüllung von völkerrechtlich übernommenen Scheinverpflichtungen anlangt, so braucht man sich auch in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen. Denn diese Staatspraxis wird durch Nichterfüllung des seit dem Jahre 1920 bestehenden Verfassungsversprechens des Artikels 145 des Bundes-Verfassungsgesetzes abgesichert, wonach der Verfassungsgerichtshof über Verletzungen des Völkerrechts nach den Bestimmungen eines besonderen Bundesgesetzes erkennen soll, das seit 65 Jahren aussteht.

Damit bleibt zugleich der Verfassungsgrundsatz des Artikel 9 des Bundes-Verfassungsgesetzes, wonach die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, darunter vor allem der Grundsatz der völkerrechtlichen Vertragstreue, als Bestandteile des Bundesrechtes gelten, leeres Papier.

Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck und Justizminister a. D. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats bei der Tagung „Bürgerschutz 2000” in Innsbruck.

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