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Nur nodi heiliger Egoismus

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Am 9. Mai dieses Jahres kann das westliche Europa einen Jahrestag begehen, der einer Erklärung von durchaus historischem Charakter gedenkt. Vor 25 Jahren gab Robert Schuman, Außenminister der Vierten Französischen Republik, bekannt, daß seine Regierung die übrigen Staaten des freien Europa einlade, die Grundstoffindustrien Kohle und Stahl gemeinsam zu verwalten. Mit dieser Deklaration wurden sämtliche Vorstellungen der europäischen Politik, wie sie seit Jahrhunderten gang und gäbe waren, in Frage gestellt. Die Hegemonie eines einzelnen Staates würde mit diesem Konzept ebenso verneint wie jenes „Gleichgewicht der Mächte“, das ein grundsätzliches Dogma der britischen Außenpolitik gewesen war.

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Am 9. Mai dieses Jahres kann das westliche Europa einen Jahrestag begehen, der einer Erklärung von durchaus historischem Charakter gedenkt. Vor 25 Jahren gab Robert Schuman, Außenminister der Vierten Französischen Republik, bekannt, daß seine Regierung die übrigen Staaten des freien Europa einlade, die Grundstoffindustrien Kohle und Stahl gemeinsam zu verwalten. Mit dieser Deklaration wurden sämtliche Vorstellungen der europäischen Politik, wie sie seit Jahrhunderten gang und gäbe waren, in Frage gestellt. Die Hegemonie eines einzelnen Staates würde mit diesem Konzept ebenso verneint wie jenes „Gleichgewicht der Mächte“, das ein grundsätzliches Dogma der britischen Außenpolitik gewesen war.

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Der Schritt Robert Schumans bedeutete ein großes Wagnis. Die Erinnerungen an die Besetzung durch die Truppen des Dritten Reiches waren in Frankreich, Belgien und besonders in den Niederlanden noch höchst lebendig. Eine unter dem Namen Schuman-Plan gedachte Kontrolle und Koordinierung von Kohle und Stahl hatte nicht nur wirtschaftliche Bedeutung, sondern gewann sofort politische Akzente. Die bisherigen Projekte der französischen Diplomatie, soweit sie den deutschen Nachbarn betrafen, wurden radikal über Bord geworfen. Von Kardinal Richelieu bis zu Marschall Foch gehörte es zur eisernen Doktrin sämtlicher Pariser Regime, beide Ufer des Rheins direkt oder zumindest indirekt besitzen zu müssen und an Stelle eines zentralisierten deutschen Einheitsstaates ein loses Bündel konföderierter Länder jenseits des Stroms zu fördern. Diese Vorstellungen waren in Frankreich noch 1944 bis 1946 lebendig. Der französisch-sowjetische Pakt, zwischen de Gaulle und Stalin 1944 abgeschlossen, lag genauso auf dieser Linie wie der diskrete Versuch, einen süddeutsch-österreichischen Staat zu gründen. General de Gaulle hatte zwar während das Krieges Töne anklingen lassen, aus denen man herauslesen konnte, Frankreich werde unter geändertem Vorzeichen den Weg Paneuropas gehen und den Plan Briands neuerlich präsentieren. Als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, vertraten jedoch General de Gaulle und sein damaliger Außenminister Bidault rein nationalistische Tendenzen. Der Philosoph des französischen Nationalismus, Oharies Maurras, saß zwar wegen seiner Zusammenarbeit mit den Deutschen im Gefängnis, aber seine Lehren und Theorien befruchteten weiterhin das Denken der Staatsmänner und Politiker.

Unter diesen Gesichtspunkten ist der komplette Bruch mit den Traditionen, wie sie der bescheidene Lothringer Schuman vornahm, als revolutionär zu wertem An die Stelle des Mißtrauens zwischen den beiden wichtigsten Kontinentalnationen des westlichen Europa sollte eine vertrauensvolle Zusammenarbeit 'treten. Leider verweigerte Großbritannien anfänglich seine Zustimmung, obwohl Churchill in einer aufsehenerregenden Rede energisch für die Bildung einer europäischen Union eingetreten war, die seiner Meinung nach föderative Züge zeigen sollte.

Es gelang dem französischen Außenminister, die schweren Bedenken in seinem Lande zu eliminieren, die bedrohlichen Angriffe der Kommunisten abzuwehren und den Nationalismus der gaullistischen Sammelbewegung RPF zu immunisieren. Die Feiern am 9. Mai werden sicherlich den Zeithistorikern eine Möglichkeit bieten, die politische und diplomatische Situation Europas der damaligen Jahre zu rekapitulieren. Wenn man bedenkt, wie tief die finanzielle Abhängigkeit der europäischen Staaten von den USA, wie stark die militärische Bedrohung durch das stalinistische Imperium war, kann man die klassische Formel benützen, Robert Schuman und seine Partner de Gasperi und Konrad Adenauer hätten sich um das Abendland Verdienste erworben.

Natürlich gab es in dieser Übergangsphase zahlreiche Krisen, aber die Wirtschaften der am Schuman-Plan und an der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beteiligten Staaten verflochten sich ineinander. Der freie Warenaustausch sicherte diesen Völkern ein Wohlergehen, das im sechsten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zumindest materiell zu solcher Blüte gelangte, daß man später einmal von einem goldenen Zeitalter sprechen wird. So trivial es klingt, das primitive Sprichwort vom Esel, der auf das Eis tanzen geht, wenn es ihm zu wohl ist, kann sinngemäß auf die Mitglieder dieser Gemeinschaft angewendet werden. Der Kommentator der Zeitung „Le Monde“ weist darauf hin, daß alle anderen Zusammenschlüsse von Staaten, die Arabische Liga, der Block der Afrikanischen Einheit, die Vereinigten Staaten von Mittelamerika, ihre innere Kohäsion nicht bewahren konnten. Selbst das vielzitierte sozialistische Lager vermag seine Einheit nur mit Hilfe des gewaltigen militärischen Drucks der Sowjetunion aufrecht zu erhalten. Moskau mußte seine Armee in Prag und Budapest einmarschieren lassen, um nach außen hin Polyzen-trismus zu beseitigen. Nur der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sei es gelungen, immer wieder Kompromisse zu finden, die das Zusammenwachsen der beteiligten Völker erleichtern. Während also die Optimisten den Streit der Europa-Astrologen untereinander vergaßen, mußten sich nüchterne Beobachter über die Zukunft dieser Gemeinschaft ernstliche Sorgen machen.

Die Römischen Verträge, die Charta der EWG, hatten zu ungenau die politische Autorität dieses Staatenbündnisses definiert. Europa, größte Handelsmacht des Planeten, sank in die Rolle eines politischen Zwerges zurück. Der oft geäußerte Wunsch, ein gemeinsames Parlament durch europäische Wahlen zu konstituieren, scheiterte am Widerstand fast aller Staaten, die höchst ungern bereit waren, Souveränitätsrechte zu opfern. Wenn man die verschiedenen Momente dieser Entwicklung studiert, muß man zu dem Schluß kommen, daß General de Gaulle, ein geschichtliches Phänomen ersten Ranges, eine der retardierenden Kräfte war. Von Sendungsbewußtsein erfüllt, beseelt vom Glauben an die Zukunft seines Landes, wurde de Gaulle nicht zum Bismarck oder Cavour Europas. Mögen seine Nachfolger auch nur selten den Namen des Gründers der V. Republik beschwören, sein Geist und seine Ideen leben weiter.

Was heute, ein Visrteljahrhundert nach dem Schritt Robert Schumans, in Europa zu sehen ist, muß mit einem Scherbenhaufen verglichen werden. Jeder für sich, heiliger Egoismus, rette sich wer kann, Canossagänge nach Damaskus, Kairo und Saudiarabien sind die Zeichen, welche auf die schwerste Krise innerhalb der EG hinweisen. Noch im Oktober 1972 beteuerten die neun Regierungschefs der erweiterten Gemeinschaft, 6ie wollten eine politische und monetäre Einheit bis zium Jahre 1980 sichern. Die Kopenihagener Konferenz im Dezember 1973, die Petroleumkrise, das Unvermögen, den europäischen Regionalfond zu realisieren, waren dann aber Marksteine der Auffäche-rumig der Gemeinschaft.

Welches sind die hauptsächlichsten Gründe, die eine solche, keineswegs zwingende Entwicklung förderten? Man muß General de Gaulle trotz allem eine gewisse prophetische Gabe zubilligen. Als er zweimal energisch sein Veto gegen die Erweiterung der EWG durch Großbritannien und die skandinavischen Staaten erhob, waren seine Motive durchaus einleuchtend. Es erschien ihm zweckmäßig, die Union der Sechs zuerst so zu festigen, daß sie eine Art Fiemont des Kontinentes darstellen konnten. Er glaubte nicht daran, daß Großbritannien und die nordischen Staaten ohne Hintergedanken bereit waren, an Stelle von einer losen Freihandelszone der Gemeinschaft ein politisches eigenständiges Gewicht zu gewähren. Hierin aber wird man dem General recht geben müssen. Wenn heute die europäische Presse die einseitigen Währungsmaßnahmen Frankreichs als einen Schlag gegen Europa bezeichnet, darf der Pariser Hinweis nicht überhört werden, daß die englische Währung schon lange vorher den europäischen Floating-Block verlassen hat. Daneben darf nicht vergessen werden, und hier liegt die Schuld eindeutig in Paris, daß es am Willen mangelte, Institutionen solcher Natur zu schaffen, die gemeinschaftliche Entscheidungen erzwingen könnten. Der Brüsseler Kommission wurden die wahren Prärogativen einer Exekutivgewalt abgesprochen. Die verlangte und erwartete Einstimmigkeit der neun Mitgliedstaaten lähmte die Organe. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn in weltpolitischer Hinsicht das Schweigen Europas zur permanenten Methode wurde. Die Unfähigkeit, eine Außenpolitik zu koordinieren, zeigte sich am peinlichsten während des Nahostkonfliktes und der Petroleumkrise. Aber ist nur das jetzt wegen seines Alleinganges angeklagte Frankreich an dieser Situation schuld? Paris hat seit zwei Jahren auf einen Energieplan gedrängt, aber von den Partnern nur ausweichende oder ungenügende Antworten erhalten. Es gehört zum guten Ton, die Niederlage zu bemitleiden und ihre trotzige Haltung zu bewundem. Aber waren es nicht gerade die Holländer, die den Fouchet-Plan, der Ansätze zu einer politischen Union zeigte, torpedierten und dem europäischen Energie-plan mit Skepsis begegneten? Die Mitte Jänner von der französischen Regierung eingeleiteten monetären Mäßnahmen sind von Paris aus gesehen absolut ilogisch, wenn man die Staatsraison in den Vordergrund rückt und die europäische Einheit bezweifelt. Ist es jedoch denkbar, daß ein westeuropäischer Staat noch künftighin dem Protektionismus huldigt und mit dem Isolationismus als Norm der Außenpolitik spielt?

Das internationale Währungssystem ist wohl gestorben, aber die Wirtschaften der westlichen Hemisphäre hängen weiterhin voneinander ab. Auch an der Seine mehren sich die Anzeichen, daß weite Kreise der Bevölkerung nicht mehr den heiligen Egoismus für die letzte Maxime der Außenpolitik halten. Die Bauernorganisationen, die Industriellenverbände und die nichtrevolutionären Gewerkschafteorganisationen (wie FO) beteuern auch heute ihre Treue zu jenem Werk, das der geniale Robert Schuman in der Erwartung eingeleitet hatte, an Stelle der säkularen Gegensätze die einzig mögliche Lösung gegenüber der Herausforderung der Supermächte zu finden.

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