6970023-1985_26_13.jpg
Digital In Arbeit

Nur Wächter vor der Tür

19451960198020002020

Ende Juni ist die Zeit der Priesterweihen. Hier meditiert ein polnischer Geistlicher, Mitarbeiter der Zeitschrift „Tygodnik Pows-zechny”, über den Start ins Priesterleben.

19451960198020002020

Ende Juni ist die Zeit der Priesterweihen. Hier meditiert ein polnischer Geistlicher, Mitarbeiter der Zeitschrift „Tygodnik Pows-zechny”, über den Start ins Priesterleben.

Werbung
Werbung
Werbung

Je länger die Fahrt, desto wütender werde ich auf meine gesprächigen Reisekameraden! An Exerzitienhäusern, Klöstern und allerlei „Häusern der Begegnung” haben sie mindestens ein gutes Dutzend zur Auswahl gehabt, und alles dicht vor der Nase; aber nein, für die Exerzitien vor der Priesterweihe haben sie sich etwas anderes ausgesucht, ein weltvergessenes Nest hinter den sieben Bergen, und dorthin fahren sie mich nun in einem knatternden Toyota, dafür mit um so höherer Geschwindigkeit.

*

Werden diese künftigen Priester das klerikale Fachchinesisch sprechen, das heutzutage mit pseudopolitischer, : intoleranter Phraseologie durchsetzt ist? Wie weit entfernt sich doch diese Kle-rikal-Sprache von der faszinierenden Einfachheit des Evangeliums und seiner gestern, heute und morgen verständlichen Gleichnisse!

Sprachfindung, Selbstfindung, das ist das Ziel der Exerzitien. Dadurch soll erreicht werden, daß dieselben Worte und Laute die umgebende Welt für uns beschreiben und gleiche oder verwandte Gedankenverbindungen und Regungen in uns wachrufen^ Wenn z. B. vom Verantwortungsbewußtsein die Rede ist, dann möge dies bedeuten, daß wir nicht nur nach unserer Einstellung zu den Pflichten des Arztes, Lehrers oder Weichenstellers gewogen und gerichtet werden, sondern auch für immer unseren Teil der Verantwortung für die Menschheitsfamilie und für die löblichen und schändlichsten Taten ihrer Geschichte zu tragen haben; wir sind in die Geschichte dieser Familie eingeflochten wie Ringe in eine Kette, wie Fäden in ein Gewebe; Geschichte, auch die eigene, beginnt nicht mit dem Einzelmenschen; von der Geschichte können wir uns nicht lossagen, und niemand von uns kann nichts dafür.

Legalistisches Denken kennzeichnet die Formung und Erziehung des Klerus in aller Welt, es macht ihn zum Wächter der Moral und der guten Sitten und verstellt somit zugleich allen Berufenen den ersten Schritt in die Menschheitsfamilie: der Wächter bleibt immer draußen vor der Tür. Dies erschwert ihm den Weg zur Reife, manchmal bis ans Lebensende. Ein beträchtlicher Teil des Klerus, in manchen Kirchen die Mehrheit, verspricht sich diese Reife von der Ehe und von „gesellschaftlichem Engagement”, während doch eines wie das andere schon große Reife voraussetzt. Woher sollten wir Achtsamkeit für die Welt gewinnen, Fähigkeit, den Urtext der Welt auszulegen, Mitleid mit der Welt - wenn nicht aus jenem Verantwortungsbewußtsein?

Es muß gesagt werden, daß der bisherige Aufbau der Priesterseminare weder die Reife noch die eben besprochene Auffassung des Verantwortungsbewußtseins gefördert hat. Verantwortung trägt der Mensch vor allem für sich selbst, vor sich selbst, vor seinem eigenen Richter: dem eigenen Ideal. Es gibt auch Orte besonders intensiver Verantwortlichkeit, vor der sich niemand drücken kann, da Verfehlungen und schuldhafte Unfähigkeit sofort an den Tag treten und ein Unglück verursachen.

Ein solcher Ort ist zum Beispiel die Kommandobrücke auf einem Schiff.

„Dies ist mein erstes Schiff; von nun an soll es der einzige Gegenstand meiner Sorge und Aufopferung sein, wir sind verbunden auf Gedeih und Verderb, auf Leben und Tod” — so denkt der junge Kapitän, der in der Schiffsmesse bei Tisch den ersten Platz einnimmt.

Während der Feier der Priesterweihe, während der rasch aufeinanderfolgenden Riten und Worte ohne Atempause und ohne Raum für Besinnung, da v *rliert sich oft, was eigentlich im Vordergrund stehen sollte: das Moment der Verantwortlichkeit. Zwischen dem neuen Priester und den bei Weihe und Primiz Anwesenden entsteht keine Bindung, denn der neue Priester ist längst einem anderen Ort zugewiesen worden.

Welch andersartige Verantwortung und Fürsorge entstünde doch an Ort und Stelle, wenn der Weihende zur Gemeinde sagen könnte: „Ich weihe ihn für euch”, und zum neuen Priester: „Dies ist dein erstes Schiff, deine erste Verantwortlichkeit für andere Menschen. Du wirst dem Wind und dem Meer die Stirn bieten, inmitten der teilnahmslosen Wassermassen, die spurlos alles verschlingen, was wir menschliche Mühe und menschliches Leben nennen” (J. Conrad, Die Schattenlinie). Weihe und Primiz am Geburtsort sorgen zwar für die Rührung der Nächststehenden und sind insbesondere eine Belohnung für die Mutter des jungen Priesters, aber er selbst hat diesen Ort längst verlassen, manchmal ohne Wiederkehr, denn er hat Hand an den Pflug gelegt und soll nun nicht mehr zurückblicken. •

Die Priesterweihe findet zum \ Feste der Heiligen Petrus und ( Paulus statt, dieser beiden so unterschiedlichen und doch so gleichermaßen getreuen Jünger Christi.

Zwischen alten Notizen und Skizzen finde ich Bemerkungen über den hl. Paulus, die ich noch niemandem mitgeteilt habe, Bemerkungen zum Brief an Timotheus (4,6-8, 17, 18), einem Brief, der am Abend des Lebens geschrieben worden ist und gleichsam die Zusammenfassung, die abschließende Beurteilung dieses Lebens darstellt.

Die Ausleger stürzen sich meist mit löblichem Eifer auf die doktrinale Seite der Apostelbriefe und übersehen oft die persönlichen, gefühlsmäßigen, menschlichen Themen, wovon der Brief an Timotheus erfüllt ist. Paulus nennt hier die Mühen, die er auf sich genommen hat, die Widrigkeiten, denen er ausgesetzt war, und dann endet er mit jenem Bekenntnis, das Einfachheit und Heiterkeit ausstrahlt: „Ich habe Glauben gehalten ...”, „Ich habe einen guten Kampf gekämpft”.

Durch die gute Verrichtung unserer Schuldigkeit gewinnen wir Gottes sichtbare und ständig erlebbare Gnade: ihr Zeichen ist das heitere, vertrauensvolle, die gesamte Persönlichkeit durchdringende Gefühl, daß wir das Unsri-ge getan haben und daß Gott für das Ende sorgen wird. Dieses Vertrauen läßt sich ohne den Glauben nicht erlangen. Denn der Glaube fügt unser Tun in eine andere als die irdische Ordnung ein, nicht nur deshalb, weil er uns die eigene Tätigkeit als einen Teil der göttlichen Ratschlüsse betrachten heißt, sondern auch deshalb, weil wir den Wert unseres Tuns mit anderem als dem irdischen Maßstab messen lernen.

Nach irdischem Maßstab ist ein mißlungenes Werk nichts anderes als ein mißlungenes Werk. Doch in überirdischer Ordnung zählt unser Streben, unsere Mühe, unser Herz. Denn der Herr sieht das Herz an und nicht die Indices und Statistiken. „Wenn uns unser Herz nicht verdammt, haben wir Vertrauen vor Gott.” „Gott ist größer als unser Herz und weiß alles” (1. Joh. 3,18-24).

Schon ist alles vorüber, und ich fahre zu Peter und Gerhild, die ein Haus bauen. In der Mitte der Woche, am Vormittag, ist die Autobahn nicht so verstopft wie sonst. Aber plötzlich bremsen die Autos und verstummen: am Straßenrand, neben einem zertrümmerten Auto, liegt ein Mädchen, über und über mit Blut bedeckt, eine Wunde reicht ihr vom Auge bis zum Kinn.

Beim Anblick eines Priesters erscheint auf den schweigenden Gesichtern der Umstehenden gleichsam ein Aufatmen. „Sie wird nicht sterben”, sagt mir auf Englisch eine Frau, über die Verletzte gebeugt. Der Priester erkennt die Menschen, die ihn brauchen, an ihren Wunden; aber woran werden sie ihn, den Priester, erkennen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung