Vom freien Flug der Geister

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Geht die aktuelle Verstörung nicht weit über die geballte Last von Krieg und Teuerung, von Wahldebakel und freiheitlichen ‚Jenseitigkeiten‘ hinaus? “

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Geht die aktuelle Verstörung nicht weit über die geballte Last von Krieg und Teuerung, von Wahldebakel und freiheitlichen ‚Jenseitigkeiten‘ hinaus? “

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Sieben Gründe, die wieder Anlass zum Optimismus geben“ titelte der KURIER jüngst – und der Leser spürte die klare Absicht: um die Depression zu überwinden, die derzeit über unserem Land liegt. Die Zeit drängt, denn – so stand es anderntags im FURCHE-Leitartikel von Doris Helmberger-Fleckl: „Noch lebt die Hoffnung, dass in diesem Land nicht die kollektive Amnesie die Oberhand gewinnt.“ Was das ORF-Fernsehen zunächst als einen innenpolitischen Arbeitsauftrag deutete: „Welche Lehren müssen unsere Parteien ziehen, um wieder attraktiver zu sein?“

Aber reicht das? Geht die aktuelle Verstörung nicht weit über die geballte Last von Krieg und Teuerung, von Wahldebakel und freiheitlichen „Jenseitigkeiten“ hinaus? Und wer weiß, wie unser angeschlagenes Selbstverständnis samt Zukunftsfähigkeit aufgefrischt werden könnten? Der Zufall hat mir dieser Tage einen Text in die Hand gelegt, mit dem mein Herausgeberkollege Wilfried Stadler schon vor 15 Jahren an dieser Stelle den Finger auf diese Wunde unserer Republik gelegt hat.

In Alternativen denken können

Er fragt da, wo die kreativen Mit-Denker zu finden wären, die unser Land „jetzt“ (das war 2008!) bräuchte, um einer ausgelaugten politischen Klasse die Suche nach zukunftsorientierten Lösungen zu erleichtern – und „um die Vorratslager für tragfähige Ideen aufzufüllen“. Wo die rot-weiß-roten Ideenplattformen wären, die – unbeeindruckt von Einzelinteressen – in Alternativen zu denken verstünden? Und wo die Experten(innen)runden, die nicht das fabrizieren, was von diversen Hauptquartieren bestellt würde?

Einen „Weisenrat“ im Vorfeld des Parlaments hat Stadler schon damals vorgeschlagen. Einen Senat von freien Geistern, an denen es ja in Österreich durchaus nicht mangelt. Die aber kaum mehr gefragt würden – und die es längst aufgegeben hätten, sich selbst zu Wort zu melden. Gelernte Österreicher würden ja zur Furcht neigen, parteipolitisch ausgegrenzt oder eingemeindet zu werden.

Beim Lesen sind mir manche Reiseerfahrungen eingefallen, etwa unterwegs durch Washington – damals, als die USA noch nichts von den Niederungen der TrumpÄra wussten. Staunend habe ich dort etwa im Lift des State Departement gelesen, was sich andere Demokratien zutrauen können: In der Herzkammer amerikanischer Außenpolitik wurden die Mitarbeiter zu einer abendlichen Diskussion geladen, Thema: „Was wir im Nahen Osten alles falsch machen“. Man stelle sich Ähnliches in einem heimischen Regierungsgebäude vor! Und doch: Wie erfrischend!

Bisweilen wirken unsere Medien wie letzte Schauplätze politikbegleitender Nachdenklichkeit. Umso schlimmer, wenn sich zeigt: Selbst prominente Kollegen können parteipolitischer Verlockung erliegen. „Je kleiner ein Land, desto größer muss es denken“, heißt eine zentrale politische Erkenntnis. Deshalb: Wir brauchen den „freien Flug der Geister“ – nicht zur Unterwanderung demokratischer Gremien, sondern als mutig-kraftvoller Beistand schwieriger Entscheidungen, die ein neues Zeitalter eben auf uns zutreibt.

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