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Obdachlos...

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Die Zahlen sind erschreckend: Im reichen Amerika leben zwei Millionen Menschen auf der Straße. Die Anzahl der Unbehausten in Detroit und anderen Großstädten ist in den letzten zwei Jahren auf das Doppelte gestiegen. In Washington stehen für 20.000 Obdachlose nur 100 städtische Asylbetten zur Verfügung.

Weil sie ohne Adresse sind, bekommen die Obdachlosen in den meisten Staaten keine Eßmarken oder Wohlfahrtsgelder. Auch die Suche nach Arbeit ist ohne festen Wohnsitz schier aussichtslos. So fristen sie ein armseliges Dasein. Sie leben in alten Autos, suchen in Untergrundbahnhöfen, Autohal-testellen oder Telefonzellen für die Nacht Unterschlupf. Sie schlafen in Schachteln oder Rohren, halten sich über kleinen Feuern warm, suchen Eßbares in Abfalltonnen.

Obdachlose hat es auch früher gegeben, aber zu früheren Zeiten handelte es sich vorwiegend um ältere, weiße Alkoholiker. Heute hat sich, bedingt durch die Wirtschaftskrise der letzten Jahre, durch das Anschwellen der Arbeitslosigkeit und durch Budgetkürzungen auf dem sozialen Sektor, eine Vielzahl anderer zu dieser Gruppe gesellt.

Unter den Heimatlosen der Gegenwart befinden sich junge arbeitslose High-School-Studenten, vorzeitig von der Schule abgegangen und ohne Berufsausbildung, Familien, die ihre nördlichen Heimatstädte verlassen haben, um im Süden vergeblich nach Arbeit zu suchen, vormalige Bewohner billiger, im Zuge von Altstadtverbesserungsplänen abgerissener Hotels und Wohnungen und eine Unzahl von Geisteskranken, die aus Institutionen in die Obhut ihrer Familien und Gemeinden entlassen wurden.

Das plötzliche Ansteigen der Obdachlosigkeit in den USA ist das Resultat langjähriger Entwicklungen und Fehlentscheidungen. In den 70er Jahren begann man heruntergekommene Innenstadthäuser abzureißen, in der Absicht, die Stadtzentren aufzubessern.

Man hatte aber nicht bedacht, daß die besseren Wohnungen, die anstelle der alten gebaut wurden, für die ursprünglichen Mieter unerschwinglich sein würden. Es wurden zwar Wohnungen für Minderbemittelte projektiert, aber dann viel weniger errichtet als ursprünglich geplant und benötigt.

Mindestens ein Drittel - manche Statistiken sagen nahezu die Hälfte - der Obdachlosen sind ehemalige Insassen psychiatrischer Krankenhäuser. Mitte der fünfziger Jahre begann man einen Großteil der Geisteskranken, außer den schwerwiegendsten Fällen, aus Institutionen zu entlassen, in der Absicht ihr Leben zu humanisieren und in der Hoffnung, daß sie von Familien oder Privatorganisationen betreut werden würden.

Zwischen 1955 und 1983 reduzierte sich die Zahl der Patienten der staatlichen psychiatrischen Kliniken von zirka 600.000 auf 125.000. Der gutgemeinte Plan, die Lage der Patienten durch größere Freiheit und humanere Betreuung zu verbessern, schlug fehl: Viele wurden von ihren Familien „ausgesetzt" und waren unfähig sich selbst zu versorgen.

Kirchliche Organisationen und private karitative Einrichtungen, die Heilsarmee mit 42.000 Betten in der Vorfront, versuchen Abhilfe zu schaffen. Aber ihre Bemühungen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Militär ist bereit, leerstehende Reservekasernen als Asyle zur Verfügung zu stellen, unter der Bedingung daß die laufenden Kosten aus Privatquellen kommen....

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