FEURCHE: Herr Präsident, wie sehen Sie heute - aus zeitlichem Abstand heraus - die blutigen Militäreinsätze am 13. Jänner in Vilnius und eine Woche später in Riga?
VYTAUTAS LANDSBERGIS: Diese Gewaltanwendung war nicht nur ein Bruch des in Litauen und in Lettland geltenden Rechts. Sie stellt auch eine Verletzung der Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken dar. Der Aggressor hat also die von ihm selbst festgesetzten Gesetze gebrochen. Man kann damit eines vor Augen führen: Es gibt keinen Kommunismus mit menschlichem Antlitz - auch wenn das manchen Menschen zuwider ist.
FURCHE: Wenn der Golfkrieg nicht rasch zu Ende gehen sollte, wäre das ein gutes oder ein schlechte Vorzeichen für Litauen?
LANDSBERGIS: Wir möchten nicht, daß diese beiden dramatischen Situationen synchronisiert werden.
FURCHE: Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage Litauens ein?
LANDSBERGIS: Wir haben es jetzt mit einem psychologischen Krieg zu tun. Moskau steigert seine Desinformationstätigkeit, zum Beispiel über vermeintliche Angriffe auf Mitglieder der Leitung der Kommunistischen Partei Litauens.
Die Errichtung des Komitees für die nationale Rettung ist an und für sich nicht nur Probe für einen Umsturz, sondern auch Ausnützung eines Druckelements. Es besteht also die Absicht, uns in Schrecken zu versetzen. Die Sowjetische Armee hat die ganze Zeit hindurch auf dem Gebiet der ganzen Republik erhöhte Gefechtsbereitschaft. Auf allen Zufahrtsstraßen nach Vilnius gibt es Patrouillen. Reisende werden kontrolliert und brutal behandelt. In der Nacht von Freitag auf Samstag vergangener Woche haben die Sowjetsoldaten für ein paar Stunden unseren Abgeordneten Vidmantas Povilionis festgenommen und inhaftiert.
FURCHE: Sie und die Abgeordneten sind im Parlamentsgebäude hinter der Barrikade aus Betonblöcken vorläufig sicher. Wie steht es mit den Familien?
LANDSBERGIS: Letzte Nacht sind am Haus des Vizepräsidenten Kazimieras Motieki zwei Wagen mit Soldaten vorgefahren. Man wollte mit Gewalt die Tür zur Wohnung des Vizepremiers Vaisvili öffnen. Von meiner Familie hat man bisher noch abgesehen.
FURCHE: Welche Rolle spielt gegenwärtig das KGB?
LANDSBERGIS: Unseren Informationen nach hatten die KGB-Einheiten keinen Anteil an den blutigen Ereignissen. Momentan schützen sie die von Sondereinheiten besetzten Objekte. Hingegen kann man einen Anteil der KGB-Dienste an den am Anfang organi-
sierten Provokationen nicht ausschließen; deren Ziel war es ja, das Parlamentsgebäude von einer Menge von mehreren tausend Leuten in Besitz nehmen zu lassen und die Deputierten daraus zu vertreiben.
FURCHE: Warum hat man in dieser prekären Situation so viele ausländische Journalisten nach Litauen gelassen?
LANDSBERGIS: Das läßt sich so erklären, daß man sie brauchte, um über solche Szenen zu berichten: wie „das Volk selbst" die „seinen Interessen zuwiderhandelnde Behörde" loswird.
FURCHE: Wer sind die Leute des geheimnisvollen Komitees zur nationalen Rettung, wessen Interessen vertritt es?
LANDSBERGIS: Es geht gewiß um imperialistische Interessen Moskaus und um egoistische Beweggründe von Menschen aus äußerst konservativen Parteikreisen, die die Herrschaft verloren haben. Im übrigen haben wir keine sicheren Angaben darüber, ob ein solches Komitee überhaupt besteht; es könnte sein, daß es sich um ein- und dieselbe Person handelt, die an der Spitze der Okku-pationsarmee steht.
FURCHE: Soeben hat Außen-
minister Jon Baldvin Hannibalson seinen Vilnius-Besuch beendet. Warum unterstützt nur das kleine Island offiziell die Bestrebungen Litauens?
LANDSBERGIS: Ich glaube, daß Island als Staat doch eine Bedeutung besitzt. Überdies hat uns Polen die Berufung und Tätigkeit der litauischen Regierung im Ausland in Aussicht gestellt. Zuletzt hat auch Dänemark die Bereitschaft zu solcher Hilfe erklärt.
Ich rechne damit, daß sich eine Art Solidarität der kleinen Länder entwickelt. Wahr ist, daß sich Staaten, die eine führende Rolle in der Welt- und Europapolitik spielen, nur mit verbalen Deklarationen begnügen. Ich meine sogar, daß Litauen und andere Ostseeländer Objekte der Handelstransaktionen zwischen den USA und der Sowjetunion geworden sind. Das könnte auch auf westeuropäische Länder zutreffen - zum Beispiel Deutschland.
FURCHE: Was erhoffen Sie in den nächsten Tagen?
LANDSBERGIS: Das ist schwer vorauszusehen. Es hat den Anschein, als ob der Streit mittels Streitkräften - wenigstens in Litauen - zu Ende sei. Es scheint so, daß die scharfen Mittel, wie ich schon vorher sagte, durch andere Mittel ersetzt werden könnten. Alles kommt jetzt darauf an, welche politischen Kräfte in Moskau die Oberhand gewinnen. Im schlimmsten Fall bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf uns selbst und die Vorsehung zu verlassen. Litauen erlangt über kurz oder lang die Unabhängigkeit.
Mit dem Präsidenten Litauens, VYTAUTAS LANDSBERGIS, sprach PIOTR GERCZUK.