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Obsession

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dann feiern wir alle zusammen im Gemeindegärtchen die Bienenmesse, wenigstens in Gedanken, nicht wahr, schreibt Wilhelm, mit Wilhelm sitze ich auf einem Ast, einfach so, Kopf an Kopf, dann sinken Gestirne und Wasser herab, dann steigen Gestirne und Wasser herab, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, Herabsteigen eines Organs, dann steigt mein Auge herab, dann in die Kohlenstube, es riecht nach verglimmender Asche, ich krieche in den schütteren Ofenwinkel, zum Ofenskelett, sage ich, dieses geheizte Schreibzimmer ist ja mein Paradies, ich brauche sonst nichts, oder beinahe nichts, finde mich abermals im roten Frottee, in der Kapuze den Kopf versteckt, die Striemen, Filzstiftstriemen an meinem Unterarm, wie eine Tätowierung, sage ich, nicht mehr zu tilgen, die Kompositionsblätter, Noten-, Notizblätter auf dem Fuszboden, bündelweise oder einzeln in der ganzen Behausung verstreut, dann entledige ich mich der Kapuze, streife das Haar aus der Stirn, um klarer sehen zu können, verschiebe nachdenklich meine Optik, also im Grübeln der Phantasie, usw., dann verhänge ich mein Schreibzimmer mit Mo-lino oder Papier, dann lagen ein paar abgeschnittene Kleeblätter auf dem Fenster, dieser Winter, dieses Herumzigeunern, sagt Rosa, sie meint vermutlich das gierige Eintaschen im Supermarkt, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, und wie alles durcheinanderwirbelt, die vielen Menschen, und drauszen das Flockenzeug, immerzu aus dem Himmel stürzend, ich höre es auch, es ist die aufmüpfige Wolkenplebs, sie geraten in Unordnung, mein gieriges Eintaschen der Post jeden Morgen, wenn ich stiegenabwärts fliege zum Hausbriefkasten, da bläst mir die Welt schon ihr Postillon-horn entgegen, ein Tag ohne Post ist wie ein Tag in der Wüste, nicht wahr, ich fliege mit Plastiktüten voll Post wieder hinauf in mein

Zimmer, erkenne die Handschriften der Absender auf dem Briefumschlag (darunter auch kalli-graphierte Maschinschrift), ich sehe X. in einem Morgentraum, nachdem ich die halbe Nacht wach gelegen war und in einem meiner Lieblingsbücher gelesen hatte, sie sitzt auf einer Palmmatte, wiegt sich auf ihren untergeschlagenen Beinen und summt vor sich hin, sie verwandelt sich dann in ein flottes Mädchen ganz in Schwarz, sie hatte in ihre schwarze Baskenmütze, die ihr tief im Nacken sasz und das blasse Gesicht mit den dunkel gemalten Augen und dem strohblonden struppigen Haar vorteilhaft betonte, fünf silberne Sicherheitsnadeln geheftet, als hätte sie eben einen Erstehilfekurs absolviert, Rosa sasz kraftlos auf einer Bank an der Hauptstrasze, eine Baumkrone beschattete ihr Gesicht, das mir zugewandt war, sie blickte mich mit kleinen schläfrigen Augen an, sie stochert dann mit ihrem Stock während des Sitzens auf dem Boden umher, wir tauschen einen Händedruck, dann lasse ich sie zurück, unvorstellbares Verhalten meinerseits, denke ich im Traum, ihre Züge lösen sich auf und bringen die Züge meines Ohrenbeichtvaters hervor, wie bei verschwimmenden in einander übergehenden Bildern auf der Kinoleinwand, nach dieser Verwandlung mache ich mir grosze Sorgen um sie, kehre aber nicht mehr zu ihr zurück, jemand hatte ihr die Last ihres Einkaufskorbs abgenommen und ging damit in eine ihrer Wohnung entgegengesetzte Richtung, ich sah Vater wieder, in einer Doppelgestalt, als hätte er einen Zwillingsbruder gehabt, er sah aus wie früher, nur der Gesichtsausdruck schien gelassener als zur Zeit da er lebte, ich war in eine Straszenbahn eingestiegen, es war Sommer, aber die meisten Fahrgäste trugen Pelze, man lächelte mir wohlwollend zu, und ich erkannte die Frau eines Freundes, sie sasz in einem lichtgrauen Fellmantel, während ich vor ihr stand und immer den nämlichen Satz wiederholte, sie möge verzeihen, ich sei heute so verwirrt, weil ich nur wenig Schlaf gehabt hätte, ich zwang mich dann, die Augen aufzuschlagen, es bedeutete eine ungeheure Anstrengung und forderte mir alles an Kraft ab, ohne dasz es gelingen wollte, ich versuchte vergeblich, den schweren Deckel einer alten Truhe zu öffnen, so dasz mir der Schweisz ausbrach, ich sah mich im Traum eben diese Zeüen auf ein Notizblatt schreiben, wobei ich mir die Sätze immerfort vorsagte, um nicht alles davon zu vergessen, für den Fall, dasz ich die Notizen nach dem Erwachen nicht mehr würde entziffern können, somnambul, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, diese Besserungsanstalt der Kunst, von Metaphern getrieben (angetrieben, betrieben), diese Blüten-, diese Blutverwandtschaft, viel Liebe, es war wie ein Ringen mit mir selbst, ich konnte die Augen nicht aufschlagen, wie versiegelt die Augenlider, ich schien keine Willenskraft mehr zu besitzen, X. blickt mich bedeutungsvoll an, hatte sie von Trauerschmuck, Pleureusen gesprochen, hatte sie Trauerschmuck erwähnt, den Trauerbesatz an ihren Kleidern, die tiefschwarze Baskenmütze, darin die silbernen Sicherheitsnadeln, oder hatte mein schwacher Verstand mir alles nur vorgegaukelt, so ist das Konstrukt auseinandergelaufen, die dunkle Straszengestalt, in diesen Schuhen, in diesen Tennisschuhen im Schnee, sage ich, aber ich komme hinaus in den Küchenraum, dann dampft schon die Küche, ein vergessener Topf auf dem Feuer, das stundenlang brodelnde Wasser perlt von den schmutzigen Fliesen, schönes Naturkind, sagt Rosa, zu X. gewandt, jetzt gehen die Dachlawinen mit Donnerschlag nieder, kein Aufbruch in Sicht, es ist drauszen ein schwefeliges, ein fahles Licht, sagt mein Ohrenbeichtvater, ein Kegel ist umgefallen im Küchenraum, es ist wie in der Kegelstube bei uns, sagt mein Ohrenbeichtvater, die leeren Flaschen rollen in der ganzen Behausung umher, überhaupt, jeder stöszt mit dem Fusz danach, die Möbelstücke auf Storchenbei-nen, sage ich, Handtuch als Schal um den Hals gewickelt, der nässende Hals, verstehe wer kann, wie unter Wasser hier alles, wie unter Wasser dampft dieses Geist- und Leibeskonstrukt, diese durchgebissenen Windhaken, usw.

(Aus einem unveröffentlichten Roman-)

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