6803636-1971_47_06.jpg
Digital In Arbeit

„Öffentliche Gewalt im Anklagezustand“

Werbung
Werbung
Werbung

In der Gesellschaft von heute haben die Verbrecher einen quasi wissenschaftlich definierten Sozialstatus. In soziologischer Hinsicht sind sie Produkte einer Verelendung und Opfer jener Privilegierten, die als eine Minorität die Ordnung in Gesellschaft und Staat steuern. In medizinischer Hinsicht sind sie ein psychologisches und ein psychopa- thologisches Phänomen, dem beizukommen weniger Aufgabe der Rechtswissenschaft als vielmehr der medizinischen Wissenschaft obliegt. In politologischer Hinsicht sind sie eine unterprivilegierte Minorität, die mit kollektiven Maßnahmen gegen die Aggressionen der Majorität zu schützen ist. Im Sinne der Ideologie der Neuen Linken gehören sie mit zu jener Mischung der Unterwelt und des Underground, der es zusteht, auf Grund der freien Wahl von Gewaltmethoden das Establishment zu stürzen. Nach den Ansichten gewisser Vertreter einer Theologie der Revolution, sind sie jene zu Unrecht verleumdete „schlechte Gesellschaft“, die in Wirklichkeit aus jenen Zöllnern besteht, denen es zukommt, den Pharisäern in die Schnauze zu schlagen. Nach den Ansichten Friedrich Heers und anderer ist mit den veralteten Ansichten von Schuld und Sühne aufzuräumen, da lediglich der Zusammenhang von Ursache und Wirkung relevant ist.

Ideologie der Unterwelt

Dieses mit höchstem Einsatz der Massenmedien verbreitete Bild der Lage ist vom Schimmer der Wissenschaftlichkeit umwittert. Mit angeblich wissenschaftlichen Methoden wird gegen Vorurteile, Fehlmeinungen, Maßstäben der Moral und Ideologien von gestern zu Felde gezogen. Das ganze ist neue Ideologie in der Tarnkappe der Wissenschaftlichkeit, die über tatsächliche wissenschaftliche Erkenntnisse hinweggeht.

Tatsache ist, daß in der sogenannten freien Welt des Westens die steigende Zahl der Verbrechen nicht als Folge einer Verelendung, sondern im Zeichen eines steigenden Wohlstandes und Massenkonsums vor sich geht. In dem Jahrhundert des Aufstiegs der Arbeiterklasse hat die Zahl gewisser Verbrechen nach Beseitigung typischer Notzustände nicht, wie ursprünglich erwartet, abgenommen, sondern zugenommen. Außerdem rekrutieren sich auf Grund der Kontraselektion im Verbrechertum die neuen Kader weniger aus den Reihen der Proletarier, als vielmehr aus der Zahl der Söhne und Töchter mittlerer und gehobener Schichten. In den Prozeßverfahren wird zwar immer mehr der Erziehungsnotstand im Elternhaus des Verbrechers als Determinante festgestellt; dieser Notstand ist aber in der Mehrzahl der Fälle bereits weniger Konsequenz proletarischer Verhältnisse, als vielmehr Erfüllung jenes kalkulierten Risikos, das die Industriegesellschaft eingeht, indem sie eine familienfeme Erziehung zum Prinzip macht. In politologischer Hinsicht ist bemerkenswert, was Herbert Marcuse, Patriarch der modernen Wissenschaft der Politik, über die angeklagte Negerterroristin Angela Davis sagt, welch letztere bei der Planung und Ausführung eines Mordanschlags auf die Mitglieder eines amerikanischen Gerichtshofs beteiligt war. Die Davis ist nach der Ansicht Marcuse „die am wenigsten gewalttätige Studentin“, die der Herr Professor kennt; sie ist das „Gegenteil einer Aufrührerin“; sie weiß nämlich, „wann Gewalt am Platz 1st und wann nicht“. In letzterer Hinsicht hoffen bekanntlich die Vertreter einer „Theologie der Revolution“ mit Hilfe kirchlicher Autoritäten ein Kriterium dafür zu liefern, wann auch nach katholischer Lehre derlei Gewaltanwendung nicht nur legal, sondern geboten ist.

Einmal mehr erweist es sich, daß Revolutionen nicht in unterprivilegierten Massen „entstehen“, sondern gemacht werden: Von Hochschulprofessoren, von Intellektuellen, von Geistlichen, von dem ganzen Klüngel esoterischer Sekten, in denen jene geistigen Hochnebel entstehen, die sich zu rasch verflüchtigen, wenn schließlich anstatt der „Macht der Ideen“ die „Gewalt der Tatsachen“ regiert.

Minoritäten terrorisieren

Einige Leser werden einwenden, daß hier der Teufel an die Wand gemalt wird und daß für österreichische Verhältnisse Einzelereignisse ungebührlich verallgemeinert und deren Darstellung vergröbert werden. Demgegenüber ist festzuhalten, daß auch in den USA, wo das Ganze seinen Ursprung nahm, und woher es im Wege über die hochentwickelten westlichen Industrieländer zu uns gekommen ist, nicht mit dem Massenphänomen des organisierten Terrors der Unterwelt begann, sondern mit Spekulationen weniger gebildeter Menschen, die selbst keiner Fliege etwas zuleide tun würden, die sich aber nicht scheuen, eine Revolution auszurufen, die wahrscheinlich blutiger verlaufen würde als alle Revolutionen,’die nach 1914 über die Erde hinweggegangen sind.

Am Typ Herbert Marcuse und Ernst Bloch wird der Charakter dieser Patriarchen der neuen Revolution erkennbar. In ihrer Jugend waren sie die typischen Produkte jenes Bündnisses von Besitz und Bildung, mit dem das bürgerliche Zeitalter seinen Höhepunkt überschritt, um nachher zu verfallen; als die Entwurzelten dieses Verfalls waren sie die jungen Intellektuellen in der gescheiterten Revolution von 1917/18; vielen von ihnen zerbrach der Hitlerismus vollends die Reste eines bürgerlichen Humanismus; ihre Fehlleistungen sind vielfach schuld am Entstehen des Systems 1945, dessen Versagen sie aber jetzt anklagen; und indem sie weder über ein inneres Proletariat verfügen, das sie neuerdings gegen den nicht vorhandenen Faschismus mobilisieren könnten, kennzeichnen sie nunmehr ihre eigene Fehlleistung von 1945 als faschistoid, um dagegen mit Hilfe des äußeren Proletariats der Dritten Welt obenauf zu kommen.

Ihre Methode ist die: Bolschewiki- sche Minoritäten sind aufgerufen, um schweigende Mehrheiten unter Kontrolle zu nehmen. Nach dem Herrenmenschentum der hitlerischen Rassisten der Terrorismus rassischer Minoritäten, die zu einem Sendungsbewußtsein erzogen werden. Nach den Methoden der Konzentrationslager als angebliches Mittel der Vorbeugung und Bestrafung von Verbrechen die Rechtfertigung der Mörder und die Versetzung der Ermordeten in den Anklagezustand. Und: Die ideelle, moralische und materielle Abrüstung des sogenannten Establishment, seine Wehrlosma- chung zwecks totaler Zerstörung dieses und Errichtung einer „neuen Freiheit“.

Die Maßstäbe ändern sich rasch. Ein Angehöriger der uniformierten Exekutive mit dem Rangabzeichen eines Stabsoffiziers bezeichnet einen Berufsverbrecher, der nach Kidnapping eines Säuglings die äußere Ordnung einer Weltstadt zu terrorisieren versucht, als einen Gentleman britischen Typs. In der Zeit der Solidarisierung der Unterwelt wird nicht nur die Standesehre der staatlichen Exekutive demontiert, sondern auch deren Standesbewußtsein als sozial abträglich diskriminiert. Mit dem Stichwort: Weg mit dem Amtskappel, wird dieser Vorgang spektakulär gemacht und der Aburteilung durch Kabarettisten und Imagefabrikanten überlassen. Die Tatsache, daß im Kampf gegen bewaffnete Unterwelt jährlich hunderte Angehörige der staatlichen Exekutive oft schwer und zum Teil tödlich verwundet werden, ist für die Massenmedien bei weitem nicht so interessant wie ein Exzeß ln der Notwehr gegen das Verbrechertum oder die einmalige Fehlleistung eines Beamten. Und da sich die Grenzen zwischen verbrecherischer Unterwelt und revolutionärem Underground vermischen, halten es viele für fair, zu Verbrechern degenerierte Revolutionäre zu tarnen (siehe jüngste Ereignisse in der BRD) oder Verbrecher unter der Hand weiterzureichen, bis letztere in gesicherter Freiheit sind. In der Auseinandersetzung der legalen Exekutive mit den gesetzesbrecherischen Verbrechertum nehmen große Teile der öffentlichen Meinung eine unentschiedene, ja fast unparteiische Haltung ein. Nachdem die intellektuellen Theoretiker den Kern der legitimierenden Staatsidee wackelig gemacht und die öffentliche Moral in den Anklagezustand versetzt haben, genießt nicht nur das uralte Recht des Widerstandes Achtung, sondern auch jenes Verbrechertum, das sich, so wie Angela Davis, nach eigenem Gutdünken die Kompetenzfindung für Gewaltanwendung zumutet.

Jahrelang wurden auch in Österreich jene Schülerzeitungen aus Steuererträgnissen finanziert, in denen Halbwüchsige ihren Lehrerinnen und Lehrern anrieten, sie möchten doch ihren Geschlechtsverkehr intensivieren, um nicht die Schüler mit fehlgeleiteten Aggressionen zu verfolgen. Herbert Marcuse rief 1967 an der Freien Universität Berlin die Revolution primär als eine sexuelle aus. Nach damaligen wissenschaftlichen Meinungen erwartete man sich vom Wegfall sexueller Zwänge eine allgemeine Abnahme der Aggressionen, eine De-aggressivie- rung. 1971 muß derselbe Wissenschaftler Marcuse von sich aus zugestehen, besagte De-aggressivierung sei nicht eingetreten; vielmehr hätten es die Menschen mit einer nicht länger zu leugnenden Brutalisierung zu tun. Man konnte ihm nur entgegenhalten, daß die Dinge eben nicht so einfach sind. „Nur“ deswegen, weil die wissenschaftlich geschulten

Gesprächspartner ihrerseits zugeben mußten, sie seien „noch nicht“ gescheit genug, um an Stelle der durch die Revolution zu beseitigenden legalen, moralischen und sonstigen „Zwänge“ andere Steuerungsmethoden zu erfinden, um die Menschen in den Besitz von Frieden, Glück und Zufriedenheit zu bringen.

Die Explosion wird angeheizt

Das Ganze ereignet sich in einer Welt, in der es nach den politischen Prinzipien der Technokraten nur darauf ankommt, zu investieren, zu produzieren und zu konsumieren; wozu nach gehöriger sozialer Absicherung das Experiment einer Freizeitgęstaltung tritt, in dem der Mensch von den Zwängen einer Arbeitswelt in einer schrumpfenden, Fünf-, Vier- usw. -tagewoche befreit werden wird. In der Wald- und Wiesenplakatagitation der modernen Wahlwerbung kommen die hintergründigen Motive, von denen hier die Rede ist, nicht zum Ausdruck. Es gibt nur Konzepte von großen und kleinen Strafrechtsreformen, die vorgetragen werden, als handle es sich dabei um die Legalisierung wissenschaftlich bereits gelöster Probleme, die im übrigen aus allen weltanschaulichen Zusammenhängen und Vorstellungen vom Menschen und seiner Welt gelöst werden müssen. Das sogenannte Rauschgiftproblem wird als ein kriminelles (hinsichtlich des Handels) und als ein medizinisches (hinsichtlich der Opfer) behandelt; die Tatsache, daß in den hunderttausenden Intellektuellen, die in allen Teilen der Welt dieser Sucht zum Opfer fielen, auch eine „wissenschaftlich definierte“ Rauschgiftphilosophie wirkt, wird in politischen Kreisen nicht gewußt oder unter Verschluß gehalten. Bei der Bekämpfung des um sich greifenden Verbrechertums bekommt die Humanisierung des Strafvollzugs gegenüber den schutzbedürftigen Interessen der von diesem Verbrechertum Bedrohten immer mehr Vorrang. Die unaussprechliche Angst der Mütter, der Schwächeren, der Alten und Kranken vor Auswirkungen dieses Verbrechertums wird gleichgesetzt mit jener fatalen Fehlhaltung der Massen, die von Urzeiten her gewohnt sind, eher bei einer Hinrichtung zuzuschaüen, als Gutes zu tun. In einem technologisch orientierten Zeitalter wird die Explosion, nämlich die unkontrollierte Explosion, ansonsten Alptraum des Technikers, zur fortschrittlichen Methode der Lösung sozialer, moralischer und pädagogischer Probleme erklärt

Herbert Marcuse erwartet, daß seine Lieblingsschülerin Angela Davis freigesprochen wird. Anlaß dazu sieht der Herr Professor darin, daß die Geschworenen unter einen „internationalem Druck“ gestellt werden, der groß genug ist, daß sie den Schuldspruch scheuen; und anderseits darin, daß die „Persönlichkeit“ der Angeklagten bereits erwarten kann, daß ihre nach den Kriterien der Gewalttätigkeit geformte „Menschlichkeit“ mit den Vorstellungen, die die Jury vom Humanismus hat, konform geht. „Das sind die Chancen“ — sagt Herbert Marcuse.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung