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Öffnung Ungarns

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Vor 70 Jahren, im Oktober 1918, hatte auch Ungarn die Revolution heimgesucht. Der verlorengegangene Krieg, der Hunger, das Elend der Massen und die Trostlosigkeit der Zukunft mobilisierten breite Schichten der Bevölkerung mit dem Ziel, die „alte Welt“ abzuschaffen und etwas Neues, „Nie Dagewesenes“ zu verwirklichen.

Ungarn hatte es besonders schwer in diesem Herbst 1918. Im Budapester Parlament wurde heftig debattiert: Die Linken und die Rechten gaben einander gegenseitig die Schuld an der nationalen Misere. Die Streiks der Arbeiterschaft, die starke Desertion aus der Armee, die besonders nach der unglücklichen Schlacht an der Piave rapid zunahm, und die allgemeine Unzufriedenheit waren nur Öl in das Feuer dieser Debatten.

Graf Istvän Tisza gab vor dem „Hohen Haus“ offen zu: „Den Krieg haben wir verloren!“ Darauf erwiderte man ihm aus den Reihen der Opposition brüsk: „Verloren wurde der Krieg von den Habsburgern. Wir Ungarn hatten mit diesem fremden Krieg nichts zu tun!“

Die „Herbstrose-Revolution“ (Az öszirözsäs forradalom), wie diese politisch-soziale Umwälzung Ende Oktober 1918 später in den Geschichtsbüchern genannt würde, weil ihre Akteure auf ihren Mützen oder Hemden rote Herbstrosen trugen, endete für die Magyaren in einer politischen und nationalen Tragödie.

Mit Jubel und Freude wurde in Budapest im November 1918 die k. u. k. Monarchie zu Grabe getragen, die Habsburger und alles, was an sie erinnerte, zertrümmert (faktisch und bildlich).

Am 16. November wurde vor dem Budapester Parlament die Volksrepublik Ungarn (A Magyar Nepköztärsasäg) ausgerufen. Ein Graf war der Initiator dieses historischen Ereignisses: Mihäly Kärolyi, der später bei der kommunistischen Machtübernahme dieselbe Rolle spielte wie Ke-renski neben Lenin in Rußlands Schicksalsjahr 1917 (FURCHE 42/ 1987).

Mit der Ausrufung der staatlichen Unabhängigkeit Ungarns ging die beinahe 400jährige Habsburger-Herrschaft zu Ende.

Die neue Ära brachte Ungarn nicht den ersehnten Aufstieg. Das staatliche Territorium Ungarns schrumpfte von 325.000 Quadratkilometer auf 93.000 Quadratkilometer zusammen. Waren einst im Königreich Ungarn 21 Millionen Einwohner, verblieben im Rumpf-Ungarn nach 1920 lediglich 7,9 Millionen Menschen.

Gewiß verlangte der vom Nationalismus geprägte Zeitgeist, der die Zerstückelung der Monarchie mit allen Mitteln und mit Erfolg vorantrieb, eine Grenzkorrektur des historischen Ungarn. Nur wurde diese von Paris als vorgeschriebene „Korrektur“ so umgesetzt, daß ganze Landstriche mit ausgesprochen ungarischer Bevölkerung, ohne daß diese gefragt worden wäre, anderen Staaten des Karpatenbeckens zugeschlagen wurden. Mehr als drei Millionen Ungarn mußten nun — teilweise als zweitrangige Bürger — ihr Leben unter einer fremden Fahne fortsetzen.

Ungarn hatte unter der Regentschaft von Admiral Miklos von Horthy, der übrigens der letzte

Flottenchef der k. u. k. Kriegsmarine gewesen war, manche Probleme — vor allem territorialer Natur. Die friedliche Revision des Friedensvertrages von 1920 war Mittelpunkt seiner außenpolitischen Bestrebungen. Unserem Wissen nach betraf diese Revision nicht das zu Österreich gekommene Burgenland.

Zwischen 1938 und 1945 war Österreich Teil des Großdeutschen Reiches. Hitler dachte keine Minute daran, eventuelle ungarische Ansprüche auf das Burgenland zu befriedigen. Nur die ungarischen Rechtsradikalen warfen Admiral Horthy während des Krieges vor, diesbezügliche Ansprüche an einen — wie sie meinten — in dieser Frage zugänglichen „Führer“ zu stellen verabsäumt zu haben.

Nach 1945 war Österreich für viele Magyaren eine „Brücke“ zwischen Ost und West. Allerdings begann jetzt eine neue Ära. Zunächst wurden die Geschichtsbücher umgeschrieben (siehe Beitrag unten). Nach der Machtübernahme der Kommunisten wurde die Monarchie nur mehr als „Völkerkerker“ dargestellt. Alles Schlechte, das Ungarn in den vergangenen vier Jahrhunderten passierte — lehrte man in den Schulen — sei in Wien verbrochen worden.

Nach 1949 wurde Ungarn - als Volksrepublik — in der Tat ein großer Kerker und gezwungenermaßen Mitglied des Sowjetimperiums. Ungarn war von Österreich nunmehr durch den „Eisernen Vorhang“ abgeriegelt, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell-wissenschaftlich.

Erst 1955 wurde für die Magyaren Österreich wieder interessant. Staatsvertrag und Neutralitätsgesetz, die dem westlichen Nachbarn die Unabhängigkeit gaben, weckten in Ungarn Hoffnungen, daß die Nachkriegsgrenzen gar nicht so fest eingefroren seien.

Der Volksaufstand 1956 (FURCHE 43/1986) war in mancher Hinsicht auch Folge der politischen Neuentwicklung in Österreich 1955. Die Forderungen nach Abzug der Roten Armee und nach einer Neutralität Ungarns (vom 1. November 1956) hatten ihren Ursprung in den für Österreich so freudigen Ereignissen des Jahres 1955.

Die freundliche, ja herzliche Aufnahme des Flüchtlingsstroms aus Ungarn in der Alpenrepublik nach der Niederschlagung des Aufstandes war und ist eine historische Tatsache, die den Ungarn in Erinnerung blieb und die die Beziehungen der beiden Nationen zueinander in jeder Hinsicht positiv beeinflußt hat.

Mit der Öffnung Ungarns in Richtung Westen in den siebziger Jahren hatte man ungarischer-seits zum ersten Mal die Möglichkeit, Österreich und die Österreicher besser kennenzulernen. In den achtziger Jahren wurden mit Erfolg die wissenschaftlich-kulturellen Beziehungen auf fast allen Ebenen vertieft, und zwar auf der Basis eines gegenseitigen ehrlichen Interesses.

Es war ein langer und nicht geradliniger Weg, den Österreich und Ungarn nach 1918 beschreiten mußten. Eine Politik der kleinen Schritte, die allgemeine Evolution in Richtung Völkerfreundschaft ließ die beiden Völker wieder zueinander finden. Wahres Interesse und aufrichtige Neugier

— ohne politische Hintergedanken

— sind die Basis dieses Zueinan-derfindens.

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