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„Ökologische Kohäsion"

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Freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistung: diese vier Grundfreiheiten liegen dem Konzept des EG-Binnenmarktes zugrunde. Freiheiten auf Kosten der Umwelt? Oder entwickelt sich die Wirtschafts- zur Umweltgemeinschaft?

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Freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistung: diese vier Grundfreiheiten liegen dem Konzept des EG-Binnenmarktes zugrunde. Freiheiten auf Kosten der Umwelt? Oder entwickelt sich die Wirtschafts- zur Umweltgemeinschaft?

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Auf der Enquete „Die österreichische Umweltpolitik im Lichte europäischer Integration" im Umweltministerium Ende Oktober meinte Henrik Vygen vom Deutschen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die Zusammenarbeit in der EG sei nicht frei von Konflikten zwischen Mitgliedstaaten, Parteien, Gewerkschaften und Lob-bies, doch der Beitritt Österreichs zur Gemeinschaft würde den Klub der in Umweltfragen fortschrittlichen Staaten vergrößern.

Vygen nannte die Umweltagentur der EG ein „Trauerspiel" und sagte, daß es den Binnenmarkt ohne verbindlichen Umweltschutz für alle Staaten nicht geben werden. Sollte sich die EG nicht in der Lage sehen, ihre Wirtschafts- in eine Umweltgemeinschaft umzuwandeln, dann sei Deutschland beim Binnenmarkt nicht dabei. Vygen entwarf das faszinierende Bild eines Europa, das die Bewohner verantwortlich mache für den Zustand des Mittelmeeres ebenso wie für den Schwarzwald, für den Rhein ebenso wie für die Pyrenäen.

Wer bestimmt das Tempo?

Ziel ist, im EG-Jargon formuliert, neben der sozialen und wirtschaftlichen auch die ökologische Kohäsion zu erreichen. Dabei sollte jedoch vermieden werden, daß in der EG-Umweltpolitik nach dem Geleitzugprinzip verfahren wird, in dem das langsamste Schiff das Tempo bestimmt.

Und genau an diesem Punkt meldeten Kritiker ihre Zweifel an der Wirksamkeit von Umweltschutzbestimmungen in der EG an. Die bisher vereinbarten Mindestanforderungen sind nur ein Sockel, auf dem jedes einzelne Land seine strengere, differenziertere Gesetzgebung aufbauen kann.

Die Spielräume des EWG-Vertrags versetzen die Mitgliedstaaten grundsätzlich in die Lage, entweder durch fiskalische Instrumente oder durch strengere Normen ihren eigenen Umwelterfordernissen entsprechend vorzugehen.

Doch die Einführung der berühmten vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen) macht wirksameren Umweltschutz so gut wie unmöglich; daher forderten Kritiker wie der Physiker Hans Peter Aubau-er, daß über den vier Freiheiten die „Freiheit" der Umwelt als Schutz der

Lebensgrundlagen verankert werden müßte.

Der aus Dänemark stammende Vizepräsident des Europäischen Umweltbüros, David Rehling, sprach von vielen Absichtserklärungen der EG und den mangelnden Durchführungen von an sich guten Gesetzen. Er stellte an die Wachstumspropheten der EG die Frage: „Where ist the beef?" und meinte die greifenden Maßnahmen.

Alle Wirtschaftszweige haben ihre Vertreter als Lobbisten in Brüssel sitzen, doch die Umwelt hat keine Lobby außer den engagierten Wissenschaftlern und einigen „Laien", die sich inoffiziell sammeln, um ihr Anliegen durchzubringen.

In allen zwölf EG-Staaten sind dies zur Zeit 120 Nicht-Regierungsorganisationen mit 20 Millionen Mitgliedern. Rehling forderte einen höheren Organisationsgrad der Umweltschutzbewegungen, um einen verstärkten demokratischen Entscheidungspro-zeß anzuregen. Als Beispiel für die Schwierigkeiten nannte er drei Erscheinungen in seinem Heimatland: die Boden und Grundwasser verseuchende Nitratkonzentration, die durch die intensive Landwirtschaft hervorgerufen wird, die steigende Zahl von LKWs und den Straßenbrückenbau zwischen Dänemark und Schweden. Es sei nicht möglich, die einflußreichen Lobbies in Dänemark zu einer anderen Politik zu bewegen. Alle Hoffnungen ruhen in Brüssel. Dort müßte jenes entscheidende Wort gesprochen werden, das eine andere Entwicklung anrege, die nicht mit einem weiteren Verbrauchen von Umwelt arbeite.

Für Professor Laurens Jan Brinkhorst, den Generaldirektor der EG-Kommission für Umwelt, nukleare Sicherheit und Zivilschutz, gelten diese Forderungen schon als erfüllt. Die Umweltgemeinschaft formiere sich bereits, doch mit der Realität müsse jeder leben lernen. Das bedeute, daß bis 2010 um 25 Prozent mehr Energie bei gleichzeitiger Reduktion des COj-Ausstoßes gebraucht werden, bis 2030 sollen 30 Prozent mehr PKWs über die Straßen der EG rollen, die auch im Durchschnitt mehr Kilometer zurücklegen werden. Verbrauchsärmere und umweltfreundlichere Autos sollen weniger Schadstoffe freisetzen.

Ähnliche Zahlen nannte er für den steigenden Wasserverbrauch, um 35 Prozent mehr, in der weiter entwik-kelten Landwirtschaft ein Zuwachs von 60 Prozent an Düngemittel und durch die Veränderung im Freizeitbereich ein Zuwachs von 60 Prozent an Tourismus im Mittelmeerraum. Brinkhorst sprach von einem qualitativen Sprung der EG-Wirtschaft.

Einen qualitativen Sprung forderten auch die Kritiker und meinten den wirtschaftlichen Umstieg. Der Biologe Rupert Riedl sprach von einem Wachstum, das erst dann ein Ende finde, wenn der Tod das Ende setze. Die EG habe sich einem Wachstum verschrieben, das alle gewachsenen traditionellen Strukturen in Europa übersteige und dadurch ersticke.

Zwischendurch wurde über die österreichische Umweltpolitik gesprochen, doch die Anhörung der Experten aus der EG stand eindeutig im Vordergrund. An diesem Umstand änderte auch das Referat des Grazer Universitätsprofessors Reinhard Rack nichts, der juridisch feinfühlig darstellte, daß Österreich von seinen Umweltstandards nicht abrücken und in manchen Bereichen Gesetze (etwa Gentechnologie) übernehmen müsse.

Klar wurde, daß politische Fragen politisch zu entscheiden sind und daß der Kampf der Lobbies von allen Engagierten, egal auf welcher Seite sie stehen, viel Überzeugungsarbeit erfordern wird.

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