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Ökonomierealitäten

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Im Oktober 1968 beschloß die Sozialistische Partei ihr Wirtschaftsprogramm, das, so versprach Bundeskanzler Dr. Kreisky damals, „wird es vom Jahre 1970 an der systematischen Verwirklichung zugeführt, aus Österreich einen modernen Industriestaat machen wird“. Das Minderheitskabinett Kreisky I hat, von einem Investitionsplan abgesehen, in den eineinhalb Jahren seines Bestehens keine nennenswerten Maßnahmen in Richtung der Verwirklichung dieses Wirtschaftsprogrammes gesetzt. Im Gegenteil: einige programmatische Absichten, die im Oktober 1968 noch als der ökonomischen Weisheit letzter Schluß galten, wurden zwischen April 1970 und Oktober 1971 verworfen. War man noch 1968 der Ansicht, „daß eine moderne Wirtschaftspolitik nicht ohne ein Wirtschaftsministerium geführt werden kann“, so ist man später trotz eines Kompetenzänderungsgesetzes von dieser Forderung abgerückt. Wirkt 1968 „das gegenwärtige System der indirekten Steuern unsozial, weil es die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Steuerzahler unberücksichtigt läßt“, so denken heute die Autoren und Exekutoren des SPÖ-Wirtschaftsprogramms in diesem Punkt, daß diese Aussage oberflächlich und obendrein finanzpolitisch umstritten ist. Forderte man vor drei Jahren im SPÖ-Wirtschaftsprogramm noch die „Erhaltung eines möglichst stabilen Preisniveaus“, wobei im Februar 1970 drei Prozent Preissteigerung als „nicht tolerierbar“ galten, so versucht man heute eine Predssteige- rungsrate unter fünf Prozent als wirtschaftspolitischen Großerfolg. Und verlangte man im Oktober 1968, „gezielte Förderungsmaßnahmen für die Landwirtschaft, um sie in die Lage zu versetzen, sich den geänderten technischen und wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen“, ja, verdammte man „das österreichische System der Agrarsubventionen als unrationell“, so ließ die Regierung vor genau einem Jahr an jeden Bergbauem 300 Schilling überweisen, eine Maßnahme, die dieser „unrationellen“ Agrarpolitik exakt entsprach.

Diese wenigen Beispiele werden bloß angeführt, um aufzuzeigen, daß sich die Regierung mit ihren wirtschaftpolitischen Maßnahmen trotz anderslautender Beteuerungen nicht oder doch nur sehr ungefähr an die Richtlinien ihres Wirtschaftprogrammes halten wird, obwohl Dr. Kreisky und der Sozialistische Parteitag dies am 4. Oktober 1968 verbindlich versprochen haben.

Trotz dieser gewichtigen Einschränkungen wird man das SPÖ- Wirtschaftsprogramm, weil es sich tatsächlich „auf dem Boden der Tatsachen hält“ (Dr. Kreisky vor dem SPÖ-Parteitag) als konzeptionelle Grundlage für die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Kabinetts Kreisky II für die kommende Legislaturperiode werten können. Kreisky hat im Zusammenhang mit der von Vizekanzler Häuser vom Zaun gebrochenen Verstaatlichungs-Diskussion mehrmals betont, daß sich seine Regierung an die Grundsätze des Wirtschaftsprogramms und nicht an die Postulate des Parteiprogrammes 1958 gebunden fühle; überdies hat er nun genau die „klaren Verhältnisse“, eine absolute Mehrheit im Nationalrat, die es seiner Regierung ermöglichen, wirtschaftspolitische Absichten in die Tat umzusetzen.

Hinsichtlich der Neukonstruktion der Gewerbeordnung sollten sich dieser Regierung keine großen Hindernisse in den Weg stellen. Die liberalen Gedanken im Staribacher- Entwurf werden wohl oder übel von der Bundeswirtschaftskammer und vom Wirtschaftsbund akzeptiert werden müssen. Allfällige Kritik des Kleingewerbes können diese beiden ÖVP-Domänen jederzeit mit dem Hinweis, daß sich gegen eine sozialistische Alleinregierung nicht mehr habe durchsetzen lassen, auf die SPÖ-Alleinregierung kanalisieren. Das ist in der Politik eine legitime Methode; daran, daß man am Stubenring und in der Falkestraß« den Entwurf grundsätzlich billigt, würde sich nichts ändern. Es ist in diesem Zusammenhang eher unwahrscheinlich, daß die SPÖ-Alleinregierung in der kommenden Legislaturperiode ein Preisregelungsgesetz durchdrücken kann. Dazu bedarf es einer qualifizierten Mehrheit im Parlament, die sie selbst im Junktim mit den Wirtschaftslenkungsgesetzen nicht erreichen können wird. Hier stellt sich im übrigen auch die Frage, ob die SPÖ-Alleinregierung an einem Preisregelungsgesetz tatsächlich so brennend interessiert ist, wie sie das in der Wahlpropaganda behauptete. Ein solches Gesetz 1st in der Praxis eine äußerst stumpfe Waffe — das weiß der Gewerkschaftsbund ebenso wie die Regierung. Verfügt man erst einmal über ein Preisregelungsgesetz, so hätte man in den Augen der Öffentlichkeit eine Ausrede mehr für den eher aussichtslosen Kampf gegen Preissteigerungen verloren. Auf diesem Gebiet müßte eher die Opposition mit Vorschlägen aktiv werden, was aus einer Reihe von Gründen aber auch nicht erwartet werden darf.

Unter der realistischen Annahme, daß Finanzminister Dr. Androsch auch in den nächsten vier Jahren für die Budgetpolitik in Österreich verantwortlich zeichnen wird, ist kaum damit zu rechnen, daß diese Regierung die im SPÖ-Wirtschaftspro- gramm versprochenen „Wege zur Neugestaltung der österreichischen Budgetpolitik“ einschlagen wird. Seit nunmehr eineinhalb Jahren hört und liest man in der einschlägigen sozialistischen Presse nichts mehr über eine längst fällig gewordene Reform des österreichischen Budgetrechts; dies deutet auch darauf hin, daß in der kommenden Legislaturperiode eine österreichische Version des bundesdeutschen Konzepts des konjunkturneutralen Haushaltes (Stabilitätsgesetz) nicht einmal diskutiert werden wird, soweit auch die Oppositionsparteien dieses Thema nicht behandeln. Zur Schließung permanenter Budgetlücken wird Androsch auf der Budgeteinnahmenseite wahrscheinlich einige Korrekturen bei den Sätzen für die Erbschaftsund Vermögenssteuer und die Verbrauchssteuern auf Güter des gehobenen Bedarfs (Zigaretten, Alkohol, Kaffee usw.) vornehmen (müssen). Es ist in diesem Zusammenhang nicht völlig ausgeschlossen, daß eine Pkw-Sondersteuer in neuer Form wieder eingeführt wird. Bekanntlich wurde diese Steuer gegen den Widerstand maßgeblicher SPÖ-ökonomen als unabdingbare Forderung der FPÖ zur Budgetzustimmung aufgehoben.

Im Rahmen der (kaum) vorhandenen finanziellen Möglichkeiten wird auch eine sozialistische Alleinregierung den Ausbau der Infra-

Struktur trotz großer Progrogrammversprechungen nicht über das durchschnittliche Tempo der letzten zehn Jahre beschleunigen. Darauf deutet schon der 10-Jahres-Investi- tionsplan, der im wesentlichen nichts anderes ist, als eine längerfristige Fortschreibung der jährlichen Investitionen. Im SPÖ-Wirtschafts- programm ist im übrigen das Kapital „Ausbau der Infrastruktur“ in epischer Breite gehalten; dafür fehlt es an dezidierten Aussagen, die über den Rahmen der Infrastrukturpolitik in Österreich hinausgehen. Ob in Österreich tatsächlich — wie im SPÖ-Wirtschaftsprogramm versprochen — jährlich 60.000 Wohnungen ab 1972 gebaut werden, ist selbst dann zu bezweifeln, wenn die sozialistische Alleinregierung ihren Bodenbeschaffungsgesetzentwurf realisiert haben wird (siehe dazu aber auch Seite 3).

Die sozialistische Alleinregierung wird in den nächsten vier Jahren permanent unter dem Druck der öffentlichen Meinung (vielleicht auch unter dem Druck einer konsolidierten ÖVP-Opposition) wirtschaftspolitische Entscheidungen im Rahmen des Möglichen und (weil man das versprochen hat) im Rahmen des Unmöglichen zu treffen haben. Sicherlich werden dabei ln diesem oder jenem Sektor vernünftige Maßnahmen gesetzt werden, zu der eine in sich uneinige Volkspartei zuletzt weder Konzept noch Durchsetzungsvermögen gehabt hätte. Im übrigen aber wird sich auch diese Regierung vor allem mit der Konjunkturstabilisierung beschäftigen müssen.

Das freilich bedeutet, daß ein Gutteil der kommenden Regierungszeit dafür wird geopfert werden müssen, kurzfristig die ökonomischen Aktivisten anzuheizen. Aber für die Verwirklichung wichtiger und interessanter Programmpunkte des Wirtschaftsprogramms wird — so ist zu befürchten — recht wenig Zeit bleiben.

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