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Österreich gibt ein gutes Beispiel

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Am 15. Mai 1955 stand ich in Wien an der Seite unseres Außenministers Antoine Pinay: ein Tag, der denen, die ihn erlebt haben, unvergeßlich bleiben wird.

Ich war schon seit Jahren am Quai d'Orsay (dem französischen Außenministerium) mit den europäischen Angelegenheiten befaßt gewesen und hatte mit Bestürzung, aber ohne Erstaunen, das Stagnieren der Verhandlungen zwischen den vier Besatzungsmächten über den österreichischen Staatsvertrag beobachtet. Plötzlich wurde es Licht: die Sowjets zeigten sich endlich zugänglicher, der Weg zur Unterzeichnung wurde freigegeben.

Ein ganzes Volk zitterte vor Glück. Der 15. Mai 1955 war ein großer Tag für Europa und für die Menschheit.

Aber auch für mich als Diplomaten hatte es seine besondere Bedeutung: die österreichischen Regierung wählte diesen Tag, um mir das Agrement als Botschafter Frankreichs zu erteilen.

Als Hochkommissar, dessen Tätigkeit zwischen der Unterzeichnung und dem Inkrafttreten des Vertrags zu Ende ging, hatte ich das Privileg - Frankreich hatte im entscheidenden Monat den Vorsitz unter den Vier - zu erklären: „Österreich ist unabhängig und frei.”

Am 5. November konnte ich in der großzügig wieder aufgebauten Oper einer beeindruckenden Aufführung des Fidelio beiwohnen. Die Österreicher feierten in der Musik und im Gesang das Ende ihrer Prüfung und den Triumph ihrer Freiheit.

Während mehr als drei Jahren unterließ ich nichts, um in das Leben und die Seele eines Landes einzudringen, das mich nicht nur durch seine Schönheit und seinen allgemein geschätzten Charme bezauberte, sondern auch durch seinen Stolz und seine Energie, mit der es sein Schicksal in die Hand nahm. Das war nicht mehr das Österreich aus der Zwischenkriegszeit, politisch unsicher und wirtschaftlich arm. Die Österreicher hatten Vertrauen in die Zukunft ihrer Heimat gewonnen.

Frankreich und Österreich konnten sich die Hand reichen. Nichts trennte sie. Ich habe dies immer wieder in meinen Gesprächen am Ballhausplatz wie in der Öffentlichkeit betont. Der Empfang, der mir zuteil wurde, bestärkte diese Uberzeugung.

Ich .war glücklich, wenn mich mein Freund Leopold Figl als Außenmini-

DECLAUSONNE ster auf seine sonntäglichen Rundreisen durch die Bundesländer mitnahm und mich mit den Worten vorstellte: „Ich bin mit dem Vertreter der großen Nation gekommen.”

Mit ihm, mit Bruno Kreisky, dem Staatssekretär im Außenamt, dessen Persönlichkeit mich damals schon beeindruckte, und mit den anderen Mitgliedern der Bundesregierung, die Volkspartei und Sozialisten vereinigte, unterhielt ich mich oft und herzlich über die Stellung eines verjüngten Österreich in einem veränderten Europa, über seinen Eintritt in den Europarat, über die Verdichtung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen zwei Staaten mit gleichen Interessen und gegenseitiger Zuneigung.

Diese faszinierende Periode meiner Laufbahn wurde durch einen Schatten getrübt: durch die Ereignisse in Ungarn im Herbst 1956, von denen niemand wußte, zu welchen internationalen Erschütterungen sie führen könnten. Wenigstens mir erlaubten sie, die Kaltblütigkeit zu bewundern, die in Wien alle bewiesen, die großzügige Bereitschaft, mit der man die Flüchtlinge aus dem Nachbarstaat aufnahm und mit der man der Erinnerung an die gemeinsame Existenz unter der Monarchie Anerkennung zollte.

Im Verlauf dieser Jahre wuchsen die Bedeutung und das Prestige Österreichs immer weiter. Wien ist von neuem eine der wichtigsten europäischen Hauptstädte geworden. Österreich selbst liefert eines der bemerkenswertesten Beispiele eines Landes, das, trotz der geringen Größe seiner Bevölkerung und der exponierten Lage seines Gebietes, dank seiner Tradition, seiner Klugheit, seines Talents als entscheidendes Element im europäischen Gleichgewicht wirkt. In der Mitte eines zweigeteilten Kontinents bringt es in die Beziehungen zwischen Ost und West eine Note des Optimismus und der Hoffnung ein.

Der 25. Jahrestag des Staatsvertrags sollte mit innerer Bewegung, mit Dankbarkeit und in aller Öffentlichkeit gefeiert werden.

Francoii Seydoux wurde 1949 Direktor für europäische Angelegenheiten im französischen Au-Uenministerium. Von Mai 1955 bis I95S war er Botschafter in Wien und gehörte der französischen Staatsverlragsdclegation an, anschließend wurde er als Botschafter nach Bonn berufen. 1970 bis iu seiner Pensionierung 1976 bekleidete er die Funktion eines Staatsrates.

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