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Österreich könnte in Zukunft Vorbild sein

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Denkt man an die Zukunft unseres Landes, darf man nicht vergessen, was Österreich in diesem Jahrhundert alles widerfahren ist. Aus einem großen Reich ist ein kleines Land geworden — mit Schwierigkeiten, die fast alle heute bewältigt sind. Will man aber an die Zukunft denken, ist es notwendig, sich mit der Geschichte, der Kultur und der Tradition Österreichs auseinanderzusetzen.

Um es mit Andrė Malraux zu sagen: Wir leben in einem musėe imaginaire, wo unsere Geschichte herumsteht wie Versatzstücke einer anderen Zeit; die aber dennoch unser heutiges Geschehen beeinflussen. In diesen Versatzstücken befinden sich die verschiedenen Österreich: das der Kaiserzeit, dessen Legendenbildung schon zu Lebzeiten begonnen hat, wie auch das Österreich des Bürgertums der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten.

Wir müssen ebenso mit dem Österreich der Großdeutschen wie auch mit den Spuren des Vielvölkerstaates leben, der besonders in Wien seine Spuren hinterlassen hat. Österreich ist in diesem Jahrhundert auch zweifellos das östlichste der westlicheji Länder gewesen, mit viel Geschichte und viel Talent, eben diese Geschichte zu verdrängen. Mit einem Talent zur Kultur und gleichzeitig einem Mangel daran. Mit einem Gefühl für Sprache, die auch ihre Abgründe gezeigt hat, wenn sie in den Mund der Diktatoren geraten ist.

Die Literatur ist in österr,eich „das Tagebuchführen einer Nation", wie es Kafka nannte, „etwas ganz anderes als Geschichtsschreibung". Es ist die zweite Ebene des Lebens, der Weg nach innen, das Resümee über das Getane und Schuldiggebliebene, das Festhalten eines flüchtigen Gedankens und eines leicht vergeß-baren Erlebnisses, die Gewissenserforschung, die konkrete Vergewisserung seiner selbst im Ablauf der Tage.

Dieser „Requisitenstaat"

Österreich oder „Altensam", wie Thomas Bernhard es nennt, zeigt die Unentrinnbarkeit, das Erbe aufzuarbeiten und es für die Zukunft nützlich zu machen.

Was bedeutet das nach außen? Zunächst einmal die Fähigkeit, unsere Lage zu begreifen: Wir sind keine „Insel der Glückseligen", sondern alles rund um uns trifft uns — das Verhältnis vom Westen zum Osten, das Ringen um den Frieden, die Spannungen in Jugoslawien, das Geschehen in Polen, das Schweigen in der Tschechoslowakei, die Unsicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der immerwährende Trapezakt Italiens. Alles ist Nachbarschaft und spielt zu uns herein, verlangt von uns Stabilität und Auseinandersetzung, Präsenz und nicht Abmeldung.

Wir können etwas aktiv tun: nämlich die Geschichte nutzbar machen. Wir können direkt in das Schicksal der Länder der ehemaligen Monarchie eingreifen, indem wir ihre Sprache kennen und nicht nur beschämt sind, wenn Wissenschaftler aus diesen Ländern zu uns kommen und unsere Sprache reden. Wir haben die Möglichkeit menschlicher Kontakte bis hin zur politischen Demonstration.

Warum zeigt nicht die Friedensbewegung Österreichs ihre Kraft, inderii sie ąm Siegesplatz in Warschau demonstriert? Warum Werden Reisen nach Ungarn nur gęrnącht, um dort die Regale der Eihkaufslädeh auszuräumen? Warum bleibt es den Italienern überlassen, die „civiltä Mittel-europea" zu beleben?

Es ist nicht nur Nostalgie, wenn in Prag, Budapest, Krakau und Zagreb die Kaffeehäuser ähnlich aussehen; es gibt auch einen geistigen Hintergrund dafür, der durchaus leben kann als eine Gemeinschaft über Grenzen hinweg. Wieviel individuelle Hilfe, wieviel gemeinschaftliches Gespräch müßten möglich sein, um wenigstens die innere Freiheit unseren Nachbarn zu geben und die unsere zu beleben!

Daraus wächst ein Verständnis der Verwandtschaft — vor allem im Geistigen. Was die Politik nicht zuläßt, kann die Wissenschaft, können die Kirchen, können die kulturellen Bereiche und letztlich auch die Ähnlichkeit der Wirtschaftsstrukturen bewirken. Wo bleibt die vitale Außenpolitik Wiens auf diesen Ebenen? Wechselseitige Bürgermeisterbesuche Werden aus guten politischen Gründen keine Chance haben; ein aktives und gefördertes Programm des Austausches von Jugend, Kultur, Vereinen und Interessen aber bringt Dialog, Begegnung, Verständnis und neue Gesprächsmöglichkeiten.

Chancen für ein größeres Österreich gibt es auch in der heute so schmählich behandelten Entwicklungshilfe. Warum knüpfen wir nicht über die katholische Kirche hinaus an der Tradition der Verbindungen an und nehmen zwei, drei kleine Länder in Zentral- und Südamerika als unsere Partner?

Das Denken in Afrika oder Südostasien wird für uns schwerer erreichbar sein als jenes in Lateinamerika, das doch wesentlich von Europa bestimmt ist. Gerade die Kirche kann hier eine Brücke sein, die von den staatlichen Stellen gleichfalls benützt werden muß.

Ein größeres zukünftiges Österreich gibt es aber auch nach innen, in dem wir einer müde gewordenen westlichen Welt zeigen, daß wir nicht mehr„Versuchssta Ttion für Weltuntergänge" - wie es Karl Kraus gemeint hat - sind, sondern einen Versuch für Frieden, Fortschritt und Phantasie darstellen.

Friedrich Heer hat uns das oft mißverstandene „Gespräch mit dem Feind" anempfohlen. Die Feinde sind heute in uns selbst zu suchen, nämlich die der Trägheit, der Langeweile, der Bequemlichkeit, der Sattheit! Der Wille zur Verständigung nimmt in unserem Land ständig ab, die Sprache ist nicht mehr zu Begegnung bestimmt, sondern zur Abkapselung, zur Verschweigung und Vereinsamung.

Hier aber liegt die Voraussetzung zu einer notwendigen Kreativität, die letztlich die einzige Chance bietet, einem müde gewordenen Wirtschaftssystem neue Horizonte und Impulse zu eröffnen.

Bis jetzt zehren wir noch von unserem Bildungssystem, das zwar unter den vergangenen Reformen gelitten hat, aber doch nicht endgültig zerstört ist. Wenn die Entwicklung unserer Gesellschaft so ist, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, wird es gerade die Bildung sein, die Ersatz — nein: bessere Möglichkeiten des Lebens bietet. Warum senken wir Niveau und Anspruch, Möglichkeit und Herausforderung, statt in begleitenden Bildungseinrichtungen Chancen für die Zukunft zu bieten?

Wenn schon immer von „intelligenten Produkten" die Rede ist, die nur von intelligenten Menschen hergestellt werden können, darf auch die Frage gestellt werden, wo jene Einrichtungen sind, die diese Intelligenz aktivieren. Wir können aber auch zeigen, welchen Fortschritt wir meinen: den, der rastlos immer neue Ansprüche schafft, oder den, der versucht, zur Zufriedenheit der Menschen zu führen.

Die so oft mißverstandene und heute in die Tagespolitik gezerrte „grüne Bewegung" kann uns hier zum Maß des Menschen führen zum Einsatz an der richtigen Stelle, aber auch zur Enthaltsamkeit dort, wo wir uns selbst überfordern. Diese glückliche Mischung historischer Leistungen und Erfahrungen, natürlicher Talente und Begabungen und friedlicher innerer Entwicklungen in Österreich bietet eine Chance, zu zeigen, was Fortschritt wirklich bedeutet.

Wir haben in diesem Jahrhundert Abschied von der Großmachtideologie genommen, Größe begreifen wir nicht mehr quantitativ, in Quadratkilometern oder Armeen, in Kronen oder Herzogtümern. Verschwunden ist die „Reichsidee", die für viele Faszination und Abgrund zugleich bedeutet hat. Relativiert ist die

Macht der Masse und die Anziehungskraft des Kollektivs. Was wäre es, die Macht der einzelnen Person in den Mittelpunkt zu stellen, deren Fähigkeiten, aber auch Verantwortung mit all dem Marschgepäck, das uns dieses Jahrhundert mitgegeben hat?

Wir stehen an einer Wegkreuzung, die für uns die Gefahr bedeutet, in die Geschichtslosigkeit zu fallen, weil wir uns selbst einen Mangel an Herausforderung genehmigen und einen Mangel an Zukunftswillen haben.

Der Autor ist Vizebürgermeister und Landeshauptmannstellvertreter von Wien.

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