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Österreich und seine Historiker

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Auch in der Zweiten Republik ist Patriotismus nicht „in“, was meistens heißt: entbehrlich, wenn nicht schädlich. In einer Aussprache, die unlängst namens der Bundesregierung mit Sprechern der „österreichischen Jugend“ geführt wurde, herrschte Einheit darüber, daß die Veranstaltung zum österreichischen Nationalfeiertag 1973 jedenfalls keinen patriotischen Charakter tragen dürfe. Vielleicht wird es teilweise Reprisen dessen geben, was sich 1967 und 1968 am Nationalfeiertag in der Wiener Stadthalle ereignete. Im Wortgebrauch der Massenmedien scheint das Hauptwort Patriotismus fast nur noch in Zusammenhang mit dem Eigenschaftswort „übertrieben“ auf. Und Patriotismus ist ständige Sujet einer Persiflage vieler Kabarettisten. Rebus sie stantibus tut der Autor der vorliegenden Untersuchung des Patriotismus österreichischer Historiker im Weltkrieg 1914/18, Günther Ramhardter, gut, wenn er beim heutigen Leser quasi für den Schock um Entschuldigung bittet, den dieser angesichts des Patriotismus oder Quasipatriotismus besagter Historiker erleidet. Geschichtsbewußtsein als eine der Grundlagen des Staatsbewußtseins war in Österreich seit der grundsätzlichen Infragestellung des Multinational Empire durch die Idee des Nationalstaates zugleich Malaise des Historikers und des Politikers. 1853, bei der kaiserlichen Genehmigung der Errichtung einer Schule (später: Institut) für österrei-

chische Geschichtsforschung machte der Unterstaatssekretär Helfert in dem für den Vortrag an Franz Josef bestimmten Elaborat in erster Linie auf eine Erfahrung aufmerksam, wonach junge Historiker „von dem rechten Ziel der Geschichtsforschung abgelenkt“ und zu bloßen „Parteimännern“ gemacht würden. Diese „bedeutende Lücke für die vaterländische Geschichtsforschung“ gelte es zu schließen. Es ist bekannt, daß bereits mit der kurz nachher erfolgten Berufung Theodor Sickels von diesem Ziel abgegangen wurde. Es kann hier nicht näher dargelegt werden, daß Sickel nach Herkunft und Anschauung zu allem eher geeignet war, als zwecks Füllung besagter Lücke in der österreichischen Geschichtsforschung das Fundament zu legen. Wohl mit Recht konnte Otto Brunner 1938 darauf hinweisen, daß die Leistungen des Instituts daher nicht auf jenem Gebiet vollbracht wurden, auf dem sie zu allererst erbracht werden sollten. Noch während des Bestandes der Monarchie wurde der „beengende Rahmen“ einer Pflege österreichischer Geschichte beanstandet und der Institutstitel als eine „Falschmeldung“ diskriminiert. Keine Großmacht wurde noch vor ihrem Untergang von der Geschichtsschreibung des eigenen Landes dermaßen im Stich gelassen wie das alte Österreich. Hier kann nicht beschrieben werden, wie bei der Verfälschung des Gründungsauftrages besagten Instituts

wissenschaftliche Ambitionen oder politische Ranküne beteiligt gewesen sind. Bei dem Umstand, daß im „katholischen Österreich“ zuletzt in fast allen Professorenkollegien die kompakte Mehrheit von mehr oder weniger engagierten Parteigängern des antiklerikalen oder nationalistischen Freisinns gestellt wurde, war nicht zu erwarten, daß ausgerechnet besagtes Institut eine „vaterländische“ Enklave sein würde. Die von Metternich nach dem Sieg der 48er-Revolution bekundete Weisheit, wonach es ein „unschuldiges Unternehmen“ ist, ein System zu stürzen, während es „in allen Fällen etwas Bedenkliches ist“, ein Reich zu zerstören, kam dem größten Teil der Intelligenz im alten Österreich wohl erst in der Krise des Ersten Weltkrieges ins Bewußtsein.

Und so rekrutierten sich die von Ramhardter mit dankenswerter Gründlichkeit eruierten Kreise von Historikern und Wissenschaftlern, die sich nach 1914 mit Problemen des Fortbestandes der Monarchie beschäftigten, nicht eben aus „österreichischen“ Patrioten, sondern (wenn man von dem katholisch-konservativen Kreis absieht) aus gebildeten Menschen, denen Politik meistens fremd war und die darin nichts taugten, wohl aber die in der sich anbahnenden Katastrophe sichtbar werdenden Alternativen ablehnten: Anhänger des vom Deutschen Reich her instruierten „Mitteleuropakonzepts“; Deutschnationale, die den Führungsanspruch der Deutschösterreicher und das Schicksal der Deutschen in Ostmitteleuropa verteidigen wollten; Liberale, die seit 1878 nicht mehr die Macht, wohl aber mit vielen Warnungen recht bekommen hatten; Sozialisten, deren Verbundenheit mit dem Schicksal Deutschlands ebenso strikt war wie die Räson, daß der Boden eines multinationalen Staates für die Verwirklichung der Idee des Sozialismus sicher geeigneter ist als der eines Nationalstaates. Der Autor schließt mit der Warnung:

Die Erkenntnis, daß das patriotische Wirken der bedeutenden Historiker in der Donaumonarchie weder erfolgreich noch weitblickend war, sollte den (heutigen) Historiker

nachdenklich stimmen. Der liberale italienische Historiker Benedetto Croce hat nach seiner polltischen Betätigung vor und während der Ära des Faschismus sowie in Unkenntnis seines noch bevorstehenden und gescheiterten Comeback als Politiker nach 1944 geschrieben.

Politiker, die in geschichtlichen Dingen von grenzenloser Ignoranz sind, wüßten die Dinge der Welt besser zu leiten als Geschichtsschreiber und -kenner, die der Politik meistens fremd sind und als Politiker wenig taugen.

An dieser Stelle sind die Historiker in Schutz zu nehmen. Der Österreicher denkt im Zusammenhang mit der Lektüre des vorliegenden Buches an den Universitätsprofessor Wood-row Wilson, dessen pretentiöser, aber bei weitem überforderter Ame-rikanismus uns nachdenklich stimmt, wenn wir lesen und hören, was Henry Kissinger 50 Jahre nach dem Tode Wilsons von der unersetzlichen Bedeutung der von Wilson mit großem Bedacht zerstörten und sezierten Ordnung der Monarchie im Donauraum hält. Angesichts der Schüttzone, die jetzt in der Europäischen Mitte zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Brückenkopf entstanden ist, braucht manches Wort, das österreichische Historiker zwischen 1914 und 1918 verlauteten, heute keinen entschuldigenden Kommentar. Selbst die bedauerlichen Verirrungen österreichischer Patrioten von damals haben nicht eine Spur der historischen Grausamkeit an sich, die alle nach 1918 auf dem Boden der Monarchie entstandenen Ersatzlösungen mit sich brachten. Das „österreichische Archiv“ hat mit diesem bemerkenswerten Band einen weiteren Beitrag zur neuesten Geschichte Österreichs geleistet, für den der Herausgeber (Erich Zöllner namens des Instituts für Österreichkunde) und dem Autor zu danken ist

GESCHICHTSWISSENSCHAFT VND PATRIOTISMUS. Von Günther Ramhardter, österreichische Historiker im Weltkrieg 1914—1928. Reihe: Österreich-Archiv, Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1973. 230 Seiten. Preis S 198.—.

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