6837222-1975_21_11.jpg
Digital In Arbeit

österreichische Dramatik: Situation 1975

19451960198020002020

Es gibt zwar in Österreich im Bühnensehaffen immer wieder vorzügliche Regieleistungen, aber sie haben nur regionale, kaum je überregionale Bedeutung. Sehr bezeichnend ist es da, daß die aufsehenerregenden Inszenierungen des^ Österreichers Hans Hollmann nicht in Wien oder in den Bundesländern, sondern in Deutschland und in der Schweiz entstanden. Auch die vielen ausländischen Regisseure am Burgtheater erreichen an dieser Bühne keine weiter reichende Wirkung. Überraschenderweise wurden aber von Österreichern erhebliche überregionale Erfolge auf einem Gebiet erzielt, auf dem man es noch vor zehn Jahren kaum vermutet hätte: in der Dramatik. Es sei deshalb von den Bühnenwerken gesprochen, die eben in diesem letzten Jahrzehntentstanden sind.

19451960198020002020

Es gibt zwar in Österreich im Bühnensehaffen immer wieder vorzügliche Regieleistungen, aber sie haben nur regionale, kaum je überregionale Bedeutung. Sehr bezeichnend ist es da, daß die aufsehenerregenden Inszenierungen des^ Österreichers Hans Hollmann nicht in Wien oder in den Bundesländern, sondern in Deutschland und in der Schweiz entstanden. Auch die vielen ausländischen Regisseure am Burgtheater erreichen an dieser Bühne keine weiter reichende Wirkung. Überraschenderweise wurden aber von Österreichern erhebliche überregionale Erfolge auf einem Gebiet erzielt, auf dem man es noch vor zehn Jahren kaum vermutet hätte: in der Dramatik. Es sei deshalb von den Bühnenwerken gesprochen, die eben in diesem letzten Jahrzehntentstanden sind.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Vorstoß erfolgte durch Peter Handke mit der szenischen Attacke „Publikumsbeschimpfung“, die nicht in Österreich, sondern in der Bundesrepublik uraufgeführt wurde. Vordem hatte Becketts handlungsloser „Godot“ in der Entwicklung des Dramas eine Cäsur gesetzt, wie es sie seit Aischylos nicht gab. In Handkes „Sprechstück“ fehlt nicht nur jedwede Handlung, die Sprecher sind auch keine Bühnenfiguren, sie stellen nur sich selbst dar, halten in kataraktartigen Variationen eine provokative Ansprache an das Publikum. Als Equilibrist der

Sprachakrobatik erweist sich Handke auch in dem monologischen Stück „Kaspar“, das die Funktion der Sprache zum Thema hat. Ein Mensch, ohne Sprache aufgewachsen, wird erst durch sie zu einem Ich. Einsager vom Lautsprecher her manipulieren ihn, Eingriff der „etablierten“ Mächte.

Im „Ritt über den Bodensee“ gibt es zwischen fünf Personen nur Gesprächsfetzen, wobei das letztlich Kontaktlose des Gesprochenen bloßgelegt wird. Der Titel insinuiert, daß die Sprecher vielleicht vor Schreck sterben würden wie dieser Reiter der Ballade, würde ihnen die Erstarrung ihrer Sprech- und Denkgewohnheiten bewußt. Voller Gegensatz zum hypertroph Sprachlichen der ersten Stücke: „Das Mündel will Vormund sein.“ Wortloses, nur wenig verfremdetes naturalistisches Spiel, das einen kleinen Bereich belangloser Realität isoliert, bewußt macht, Bedeutung gibt, wie es Marcel Duchamp mit dem Flaschentrockner tat. Nach diesem Stück verlor das Sprachliche an Eigenbedeutung, dient in dem Stück „Die Unvernünftigen sterben aus“ den nicht voll überzeugenden Selbstaussagen eines skrupellosen Unternehmers, den die Frage beschäftigt, wer er nun eigentlich sei, wer er hätte sein sollen.

*

Auch Thomas Bernhard setzt sprachliche Mittel sehr persönlich ein, aber es geht dabei vor allem um eine penetrante Aussage. Zweiter entscheidender Vorstoß aus Österreich durch ihn mit dem Stück „Ein Fest für Boris“ in Hamburg. Das Burgtheater hatte das Stück abgelehnt, spielte es aber nach zweieinhalb Jahren doch. Umgeben von 15 Krüppeln in ihren Rollstühlen schenkt die beinlose Hauptfigur, die „Gute“, ihrem beinlosen Gatten Boris zu seinem Geburtstag in perversem Hohn Schaftstiefel und lange Unterhosen, worauf er in einem

Wirbel der Gefühle stirbt. In visionärer Kraft spricht aus diesem symbolhaft wirkenden Geschehen ein ungeheuerlicher Haß gegen das Leben. In dem Stück „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, das einen Arzt, der wie ein Irrer endlose medizinische Abhandlungen über Sektion und Obduktion spricht, sowie eine Sängerin und deren blinden Vater vorführt, wird voll besessener Lust die Lebendigkeit des Theaters, der Oper, als Inbegriff des Lebens, ja, der Kultur negiert. Eiskalte intellektuelle Konstruktion.

Sie kennzeichnet auch das Stück „Die Jagdgesellschaft“ mit fast nur monologisch geführten Gesprächen, wobei sich ein zynischer Schriftsteller lediglich in Worttiraden einem bohrenden Lebenshaß ergibt. Wir seien, erklärte er, aus nichts anderem als aus Tod zusammengesetzt Symbolhaft wirkt hier der vom Borkenkäfer befallene Wald, der das Jagdhaus, Ort der Gespräche, umgibt. In dem Stück „Die Macht der Gewohnheit“, das im Wohnwagen eines Zirkusdirektors spielt, proben die Zirkusleute, vom Direktor angehalten, seit 22 Jahren täglich das „Forellenquintett“. Die Monotonie der Gewohnheit wird penetrant dargetan. Ein paar komödiantische Lichter heben Bernhards manische Lebensfeindschaft nicht auf, er begnügt sich aber hier damit, das Leben nur widerwärtig zu finden. *

Die rationalen Passagen Thomas Bernhards verbinden sich in dem Stück „Lichtenberg“ von Gerhard Roth, mit den Sprachspiralen Handkes bei einem Professor, einem aggressiven Narren, der mit den Menschen verbal experimentiert. Ansätze zu einer Krimihandlung werden schließlich fallengelassen. Geradezu klinisch orientiert ist das Stück „A Violation Study oder El Condor pasa“ von Helmut Eisendle, das den labormäßigen Versuch vorführt, mit Belohnung und Bestrafung das Verhalten eines Menschen in einer gewünschten Richtung zu ändern. Gegen Unterdrückungsvorgänge setzt Wilhelm Pevny in „Sprintorgasmik“ — politisches Lehrtheater — auf acht Sprecher verteilte Stakkatosätze ein, wobei pantomimische Bewegungen vollführt werden.

Kann man H. C. Artmann von Handke her anvisieren? Artmann ist konkreter, er holt in seinen Stücken aus den Raritätenkammern versun-

kener Jahrhunderte vergnüglich Abstruses, pinselt Arabesken ins Blaue, schiebt surrealistisch Inkohärentes ineinander. Nach dem Sinn zu fragen, ergäbe nur eine Hohnlache, er fabuliert darauf los. Ihm verwandt erwies sich Konrad Bayer, der seine Sprachequilibristik für kasperlhaft komödiantisches einsetzte. Gerhard Rühm trieb das Verbale in puristischer Vehemenz bis zur Vereinzelung in Konsonanten und Vokale. Die Fröhlichkeit des

Makabren, Gespenstischen im Urwienerischen, das Doppelgesichtige des Komisch-Tragischen kennzeichnet Stücke von Lotte Ingrisch. Völlig anders Hans Krendlesberger, der es auch im fremdsprachigen Ausland zu beachtlichen Erfolgen brachte: Er überdreht die Realität, um etwa in der „Aufgabe“ die Leere bestimmter Lebenssituationen, in die Menschen geraten, sinnfällig zu machen. *

Von den österreichischen Autoren der Zwischenkriegszeit kommt ödön von Horväth nicht nur deshalb besondere Bedeutung zu, weil seine Bühnenwerke dauernd gespielt werden, sondern da er der einzige Autor ist, der eine erhebliche Nachwirkung bei den heutigen Stückeschreibern hat. Sind seine Volksstücke xiadurch gekennzeichnet, daß es in ihnen zu „Demaskierungen des Bewußtseins“ kommt, so waren dies Ansätze, die ins Penetrante, ja, in pures Schwarz in Schwarz weitergeführt wurden. Dritter entscheidender Vorstoß österreichischer Dramatik in den gesamten deutschen Sprachbereich durch den krassen Neorealismus von Wolfgang Bauer. Er bietet in „Magic Afternoon“ und „Change“ mit veriti-scher Akribie ein Zustandsbild haltloser, innerlich völlig leerer Jugendlicher, die in Ordinärheiten exaltie-ren, sexhörig sind und aus Langeweile, aus Überdruß Rohheiten, ja, Verbrechen begehen. Vielleicht hatte man derlei Stücke von Österreichern am allerwenigsten erwartet. Peter Turrini zieht die Konsequenz aus dem Zustand eines Teils der

Jugendlichen in dem Einakter „Rozznjogd“. Ein, Abfallplatz wird zum Sinnbild für jene junge Menschen, die nicht mehr als Abfall sind. „Er“ und „Sie“ werden wie Ratten abgeknallt., „Sauschlachten“ bietet eine kaum noch steigerbare Orgie an Brutalität. Ein junger Bauernbursch, der nicht mehr sprechen kann, nur noch grunzt, wird als „Sau“ abgeschlachtet Anprangerung bestialischer Brutalität gegenüber einem Menschen, der anders ist als die andern. Bemerkenswert wirkt Turrinis Bearbeitung des „Tollen Tag“ von Beaumarchais unter dem Titel „Der tollste Tag“ dadurch, daß da Figaro den Grafen erwürgt. Nur Gewalt kommt heute gegen Gewalt auf, nicht mehr der Witz. Harald Sommer zeigt in seinem Einakter „Die Leut“, in der Nachgiebigkeit einer Mutter die Ursache, weshalb die Tochter eine Schlampe wurde In seinem Stationenstück „Ein unheimlich starker Abgang“ gleitet eine Haltlose zur Diebin, Prostituierten und Mörderin ab, doch geht da das Naturalistische ins Farcenhafte über. Einen jungen Tunichtgut, den alles anekelt, führt Franz Buchrieser in dem Einakter „Hanserl“ vor. Der Unerziehbare erwürgt schließlich seinen gutmütigen Vater.

*

Fritz Hochwälder, der nach dem letzten Krieg erhebliche Erfolge erzielte, bot zuletzt ein Stück „Der Befehl“, eine Auseinandersetzung mit Gewissensfragen im Gefolge von Untaten während dieses Kriegs. Ebensolche Gewissensfragen behandelt Helmut Schwarz in dem Stück „Fehlurteil“ und Lido Winiewicz in Zusammenarbeit mit Ernst Waldbrunn in dem Stück „Die Flucht“. Johann A. Boeck führte eine Parallelgestalt zur Jeanne d'Arc aus den Kriegsjahren vor. Mit „Agnes und Johanna oder Die Liebe zum Augenblick“, Szenen um die geschichtliche Jungfrau von Orleans, nimmt György Sebestyen dadurch eine Sonderstellung ein, daß es hier wieder einen geistigen Zuschnitt der Dialoge und eine persönliche Sicht des Historischen gibt.

Rudolf Bayr bot in einem dramatisch sich steigernden Einakter schwarzen Humor. Ein gleichnishaftes Spiel um die Staatsmacht stammt von Albert Drach, eine bittere Zeitsatire von Carl Merz und Helmut Qualtinger. In einem Einakter beschwor Httns Friedrich Kühnelt den Zustand nach einem Atomkrieg. Otto F. Beer konfrontierte in dem Stück „Christin-Theres“ zwei Jahrhunderte. In Einaktern erwies Herbert Berger Talent für farcenhaft Makabres. Vom Grotesken wandte sich Heinz Zechmann zuletzt politisch akzentuiertem Spannungstheater zu. Erni Friedmann zeigte in einer Komödie psychologisches Feingefühl. Erwähnt seien Stücke von Oskar Zemme, Beatrice Ferolli und das Volksstück „Jesus von Ottakring“ von Helmut Korherr und Wilhelm Pellert, weiters unbeschwerte Spiele von Christine Kövesi 'und Werner Schneyder. Doch sind das keineswegs alle nach dem letzten Krieg hervorgetretenen Autoren,' von denen im letzten Jahrzehnt neue Stücke aufgeführt wurden, es wären noch etwa fünfunddreißig weitere zu nennen. Das ist eine erstaunliche Zahl, die erweist, daß vor allem die Kleinbühnen ständig bereit sind, Werke noch Unbekannter herauszubringen.

Die führenden österreichischen Autoren aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts werden selbstverständlich weitergespielt, das gilt neben Horväth vor allem für Hofmannsthal und Schnitzler, ihre Wirkung erweist sich stärker als die der Lebenden. Auch Hermann Bahr und Ferdinand Bruckner führt man auf. Stücke von Schönherr fehlen an den Wiener Großbühnen, ebenso die von Schreyvogl, dagegen gelangten Werke von Franz Theodor Csokor und Felix Braun, wie auch von Fritz von Herzmanovsky-Orlando verein-

zeit auf die Bretter. Neue Stücke: Alexander Lernet-Holenia brandmarkte in einer Satire in witziger Weise die Finanzämter, Fritz Kort-ner führte dreiaktig Eheprobleme vor, Walter Lieblein dramatisierte wirksam Romane von Dostojewski. Insgesamt sind es an die 70 österreichische Autoren, die im letzten Jahrzehnt aufgeführt wurden, soweit sich dies von Wien aus überblicken läßt.

Stücke werden wohl weniger gelesen als in früheren Zeiten. Zeitungen veröffentlichten früher Szenen aus neuen Bühnenwerken, das gibt es heute nicht mehr. Stücke erschienen manchmal als Buchausgaben Jahre vor der Uraufführung. Da ist es ein Verdienst der Edition Rotzer, Eisenstadt, in Zusammenhang mit dem Thomas'Sessler-Verlag, Wien— München, sechs Bändchen mit Bühnenwerken jüngerer österreichischer Autoren als Reihe „Der Souffleurkasten“ herausgebracht zu haben. Jünger: Auch die nicht mehr Lebenden waren junge Menschen, als sie früh starben, ödön von Horväth durch ein Verhängnis, Jura Soyfer im KZ. Von Horväth enthält die Reihe „Die Geschichte der Agnes Pollinger“, eine Szenenfolge, die Traugott Krischke vorwiegend aus einem Roman Horväths erarbeitete, von Jura Soyfer die Stücke „Der

Lechner-Edi schaut ins Paradies“, Szenen um die Problematik der Technik, und „Astoria“, eine Farce auf den Staat.

Unter den Lebenden zeigt Peter Slavik in „amo, amas, amat“ die übliche Auswirkung von Erziehungsheimen auf Jugendliche, Milo Dor führt in dem Stück „Menuett“ entscheidende Vorgänge unseres Jahrhunderts — Krieg, Revolution, Einkerkerung aus politischen Gründen — als Commedia dell'arte mit Truffaldino als Hauptfigur vor. Peter Henisch versetzt die Handlung von Nestroys „Lumpazivagabundus“ als „Lumpazimoribundus“ witzig, mit beachtlicher Gossenphantasie, in die Gegenwart. Die Kraßheit entspricht dieser unserer Zeit. „Der Dorfschullehrer“ von Peter Turrini und Wilhelm Pevny ist die erste Folge einer neunteiligen Fernsehserie „Die Alpensaga“, die eine Geschichte der Unterdrückten bieten soll, beginnend mit dem großen Bauernsterben 1894. Aufgeführtes und Unaufgeführtes ist vereint.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung