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Österreichs Weg zu sich selbst
Tiefer liegende Strömungen des geistigen Lebens machen sich selten durch deutliche Zeichen bemerkbar. Zu verschiedenartig sind die Quellen, zu dünn die einzelnen Wasseradern, die das Erdreich durchziehen. Erst allmählich formt sich das Wirrwarr zum System, gewinnt die neue Einheitlichkeit eine deutliche Richtung. Endlich treten auch an der Oberfläche manche Veränderungen zutage. Sie sind vorerst von geringer Bedeutung und werden selten beachtet. Schließlich steigt, was bis dahin in der Stille wirkte und werkte, als elementare Kraft aus der Tiefe. Sie gibt dem Denken eine neue Richtung, dem Bewußtsein ein neues Wertsystem, dem Gefühl eine neue und neuartige Intensität.
Auch das Bild der Geschichte scheint sich plötzlich verändert zu haben. Aus der Summe der Geschehnisse treten solche, die bisher im Schatten gelegen waren, glanzvoll hervor; andere, gestern noch strahlend, versinken im nebligen Qualmen der unzähligen konturlosen Episoden. Mit dem Bild der Vergangenheit verändert sich aber zwangsläufig auch das Bild der Zukunft. An diesem Punkt zeigt sich die geistige Veränderung als eine Macht, die die Wirklichkeit zu formen vermag. Sie hat nun politische Bedeutung.
Der Prozeß war in den letzten Jahren am lebendigen Beispiel der Erstarkung eines österreichischen Bewußtseins zu studieren. Zuerst wähnte man, Reaktionen auf die Nazi-Okkupation zu gewahren. Manche dachten an Zeichen eines listenreichen Bemühens, das Schicksal Österreichs von dem des zerschlagenen Dritten Reiches abzukoppeln. Mit der Deklaration der immerwährenden Neutralität erhielt der Vorgang eine zusätzliche politische Färbung. Für viele war der Ausdruck „österreichischer Patriotismus“ eine halb ehrlich empfundene, halb aus Gründen der Staatsräson in Gebrauch gebrachte Floskel, zudem den Parolen des Ständestaates verwandt. Die Diskussion über eine „österreichische Nation“ erscheint manchen auch heute noch als unnütze, ja störende Wortklauberei, zusätzlich mit der mühsamen
Aufgabe belastet, das Wesen eines Deutsch sprechenden Volkes innerhalb der Kultur des deutschen Sprachraumes als etwas Eigenständiges zu bestimmen.
Die Denkarbeit ist dennoch zu tun. Noch Kaiserin Maria Theresia glaubte, auch als Deutsche gegen das fremdartig empfundene Preußen zu kämpfen, noch Franz Grillparzer nannte sich, während er bewußt an einem österreichischen Mythos baute, wie selbstverständlich „einen Deutschen“. Mit der gleichen Natürlichkeit würde er sich heute als Österreicher bezeichnen. In wenigen Generationen haben sich jene tief liegenden stillen Prozesse zu einem gewaltigen Strom vereint. In diesem befinden wir uns. Deshalb bemerken wir ihn ebenso wenig wie der Schwimmer den Fluß, in dem er sich befindet. Es bedarf kräftiger Zeichen, um die Veränderung des Bewußtseins zu erhellen.
“ Ein solches Zeichen nun ist die „österreichische Bibliothek“, deren erste drei Bände in diesen Tagen erscheinen. Sie soll jährlich um fünf Bücher wachsen und endlich eine stattliche Reihe von hundertzwanzig Bänden ergeben. Ihr Ziel ist es, die österreichische Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart als etwas Eigenständiges begreifbar zu machen.
Kein Zufall, daß die neue österreichische Wesensbestimmung, dieser radikale Akt der Selbstfin-dung, gerade in einer Buchreihe mit derartigem Nachruck in Erscheinung tritt.
In ihren Literaturen denken die Völker über sich selber nach. Je tiefer dieses Denken zu dringen vermag, umso klarer erkennt es im eigenen Schicksal die Gesetze eines größeren Ganzen. So wird das, was wir Nationalliteratur nennen, zuletzt, grenzüberschreitend, zur Weltliteratur und zur durchgeistigten Meditation über die letzten Dinge.
An der fürwahr harten Pflicht, sich zunächst im eigenen Wesen zu vertiefen, führt kein bequemer Weg vorbei. Das moderne Schrifttum liefert Beispiele ohne Zahl. Marcel Proust mußte sich in Paris geistig versenken, James Joyce in Dublin untertauchen, William Faulkner die Südstaaten der USA erkunden, um Universalität und literarisches Weltbürgertum zu gewinnen. Adalbert Stifter, Ferdinand von Saar, Robert Musil verfuhren nicht anders. Indem sie dem österreichischen Mikrokosmos sprachliche Gestalt gaben, gewannen sie zugleich den Makrokosmos einer von Österreich losgelösten, universell gültigen Vision.
Durch die neue Buchreihe wird das österreichische Schrifttum aus der großen Einheit der deutschen Literatur nicht als Ausdruck einer Gegenposi-tion^wohl aber als etwas von allem Anfang an Eigenständiges herausgelöst. So können auch jene bedeutende österreichische Schriftsteller endlich in Erinnerung gerufen werden, die in der deutschen Literaturbetrachturig höchstens als Randfiguren erscheinen, wie etwa der in Galizien beheimatete Karl Emil Franzos.
Die Selbstbesinnung des österreichischen Geistes, die in der neuen Buchreihe Gestalt gewinnt, trägt dazu bei, ein intensiveres, von Uberschwang, Verlegenheiten und Neurosen unbelastetes Verhältnis zu den Kulturen der beiden deutschen Staaten zu finden. Erst die notwendige Abgrenzung schafft die Möglichkeit einer fruchtbaren Verbindung.
OSTERREICHISCHE BIBLIOTHEK. Hrsg. Roman Rocek, William M. Johnson und Claudio Magris. Die ersten Bände:
APHORISMEN UND GEDICHTE. Von Karl Kraus. 595 Seiten. DIE HERREN SOHNE. Von Peter von Tramin. 475 Seiten. DER AMERIKAMUDE. Von Ferdinand Kürnber-ger. 608 Seiten. Verlag Bühlau, Wien, 1985. Jeder Band öS 240,-.
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