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Östlicher Golfstrom

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„Östlicher Golfstrom”, der Ausdruck wurde in den dreißiger Jahren von Läszlö Nėmeth in Ungarn geprägt. Er, der nachdenkliche Schriftsteller und zugleich Philosoph eines - wie sollen wir es wohl nennen? - eines bäuerlich-nationalen, um Fortschritt und Qualität ringenden Weltbildes, er, der einsame Europäer, hatte mit dem Ausdruck „östlicher Golfstrom” die Notwendigkeit gemeint, unseren Blickpunkt zu überprüfen. Man möge, so meinte er damals, nicht nur ständig gegen Westen blicken. Impulse einer kulturellen Erneuerung könnten auch aus dem Osten kommen: aus der indischen Philosophie, aus der archaischen Kunst der ehemaligen Nomadenvölker, aus den Erfahrungen des Balkans mit seiner einzigartigen Vermischung griechischer, slawischer, türkischer und dalmatinisch-romanischer Elemente.

Seit ein paar Jahren lebt Nėmeth, der Prophet, nicht mehr. Aber 1976 ist in Budapest, in der Reihe „Kosmos-Bücher” ein Band mit dem Titel „östlicher Golfstrom” erschienen, von Csaba Gy. Kiss und Csaba Varga gemeinsam herausgegeben: eine Sammlung von Reiseberichten. Die Nachricht erreicht uns spät, denn erst heute lesen wir die vom Dezember 1976 datierte Nummer der Budapester Zeitschrift „Mozgö Viläg” (etwa: „Welt in Bewegung”). Sie unterrichtet nicht nur vom Erscheinen der Anthologie, sondern auch vom „ersten Treffen der jungen Schriftsteller sozialistischer Länder” im September vergangenen Jahres in Köszeg (Güns), also nahe der österreichischen Grenze.

Vertreter von acht Ländern waren bei dem Treffen anwesend, insgesamt 43 Personen, die verschiedenen Gäste und Beobachter nicht mitgerechnet. Man beriet über „die menschlichen Beziehungen in der jungen sozialistischen Literatur” und besuchte Ödenburg, Vesz- prėm, Fünfkirchen und natürlich auch Budapest. In der Zeitschrift „Welt in Bewegung” werden Leseproben abgedruckt, Gedichte und kurze Interviews. Es lohnt sich, die Zeitschrift durchzublättern.

Wladimir Sarew aus Bulgarien begrüßt die Idee, von nun an einen gemeinsamen Almanach erscheinen zu lassen. „Es scheint mir, als hätten die sozialistischen Länder in der Vergangenheit ihre Beziehungen nicht genügend hoch in Ehre gehalten.” Das soll nun anders werden. Dr. JozefPeterka aus Prag, ein Lyriker, formuliert sein Programm so: „Wir kämpfen in unserer Poesie für den gesamten Menschen und treten den modischen Stömungen entgegen: Wir sind gegen die Ablehnung von Ideologie, gegen den Positivismus, gegen den Pessimismus. Aber es ist keine Rede davon, daß wir zu der Praxis der fünfziger Jahre zurückkehren wollten. Wir müssen eine Synthese schaffen.” Und der Lyriker Ivo Odehnal aus Brünn bekennt sich zur Tradition des großen tschechischen Poeten František Halas.

Bemerkenswert die Ausführungen der in der DDR bekannten jungen Autorin Helga Schubert, Jahrgang 1940. Sie ist, wie sie sagt, eine Schülerin von Sarah Kirsch und Günter Kunert. „In meinen Arbeiten kehre ich immer wieder zur Frage des deutschen Fanatismus und zum Problem des Skeptizismus zurück, der ja ebenfalls dem Fanatismus entspringt’… In der Seele unserer Eltern und Lehrer ist an die Stelle des faschistischen Fanatismus eine gewisse Desillusionierung getreten und diese konnte später den Fanatismus des Personenkultes wie ein trockener Schwamm wieder aufnehmen. Sie können sich vorstellen, wie volkstümlich ein Autor ist, der sich mit solchen Fragen beschäftigt. Viele meiner Schriften können daheim noch nicht erscheinen, trotzdem weise ich die westlichen Angebote zurück. Ich denke, meine Arbeiten sollen zuerst von denen gelesen werden, an die ich sie adressiert habe.”

Dorin Tudoran aus Bukarest sieht besondere Gründe für die Schwierigkeiten der jüngeren Autoren: „Die nach 1960 hervorgetretene Generation hat es leichter gehabt, da sie nach der Zeit des Personenkultes erscheinen konnte. Nach den damaligen schwächeren Arbeiten war es also einfacher, etwas Neues zu bringen und auch die Kritik fand bessere Maßstäbe. Die heutigen schriftstellerischen Arbeiten erinnern nicht an Explosionen wie die früheren …” Walerij Powoljajew aus der Sowjetunion befaßt sich mit der Frage der „Arbeitsthematik”. Seiner Meinung nach soll der Schriftsteller reiche Lebenserfahrungen mit sich bringen: „Prosaautoren können diesen Zustand erst gegen ihr dreißigstes Lebensjahr erreichen.” Es klingt wie eine Art Zusammenfassung all v der Bestrebungen, wenn der Leiter der Konferenz, der Ungar Szilvesz- ter Ördögh, Jahrgang 1948, seinen offenen Brief arj einen französischen Freund mit dem Satz ausklingen läßt: „Vielleicht dürfen wir bereits mit einigem Recht glauben: Unser Hirn kennt die Saehen selbst 4 und nicht nur ihren Schein, und unser Blick vermag die Zusammenhänge der Dinge zu erfassen und nicht nur die Unterschiedlichkeit der Dinge! Die Möglichkeit der vernünftigen Arbeit und der Freundschaft ist mit uns zustandegekommen …”

Einige Monate später, in der ersten Nummer 1977, berichtet „Welt in Bewegung” über die Gründung einer anderen literarischen Revue. Unter dem Titel „Temperamente” haben auch die jungen Autoren der DDR eine eigene Zeitschrift herausgegeben. Richard Pietrass, der den Lyrik-Teil der „Temperamente” zu betreuen hat, stellt die Frage: Wer wird in der neuen Zeitschrift keinen Raum finden? und er antwortet: „Die Verlogenen, die Dilettanten und die Grafomanen. Sie können weiterhin auf das Erscheinen ihrer eigenen Zeitschrift hoffen.”

Zu Redaktionsschluß dieser Ausgabe erreicht uns die Nachricht, daß die oben genannte DDR-Zeit- schrift „Temperamente” eingestellt worden ist.

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