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Offene Gesellschaft durch Gewaltlosigkeit

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Dem aus Österreich stammenden, in England lebenden Philosophen Karl Popper wurde kürzlich das Goldene Doktordiplom und die Würde eines Ehrendoktors der Universität Wien verliehen.

„In den wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen ist Poppers „Kritischer Rationalismus“ nicht mehr wegzudenken, und in unserer Zeit, in der fast ein Drittel der Menschheit unter einem kommunistischen System lebt, kommt Popper als einem erkenntnistheoretisch begründeten Marxismus-Kritiker die Bedeutung eines heute wichtigsten Philosophen überhaupt zu.“ Diese Feststellung von Bryan Magee, Professor für Philosophie in Cambridge und Kenner der herrschenden philosophischen Positionen, umfaßt Standort und Schwerpunkte von Poppers Denken.

In einem Institut für Sozialforschung der Londoner Universität werden bereits seit längerem die von Popper bereitgestellten wissenschaftlichen Methoden praktisch angewendet. Mit großer Spannung erwartete man aber seinen Beitrag in einer von der BBC ausgestrahlte Fernseh-Serie „Men of Ideas“, denn gerade die letzten politischen Ereignisse schieben seine gesellschaftstheoretischen Uberzeugungen als höchst aktuell ins Blickfeld. So scheint die Annahme, daß heutzutage Antworten der Philosophie zur Zeit wenig gefragt sind, für Popper widerlegt. Allerdings gilt das vorwiegend für den angelsächsischen Kulturkreis, im deutschsprachigen Raum wird Popper zwar wahrgenommen, aber in der Praxis wenig diskutiert.

Auf akademischem Boden setzte hier seine Beachtung erst ein, als er nach einem Streitgespräch mit Theodor Adorno 1961 eine scharfe Gegenposition zu den Dialektikern der Frankfurter Schule bezog. In den stürmischen sechziger Jahren wurden von der Neuen Linken Poppers Theorienbildungen als „konservativ“ abgetan, und es dauerte ein gutes Jahrzehnt bis man sich wieder für sein „rationales Problemlösungsverhalten“ interessierte. Im Vorwort zu dem 1974 von jungen Soziologen veröffentlichten Essay Poppers „Utopie und Gewalt“ plädieren die Herausgeber für seine ethisch-politische Einstellung, die erkennt, daß utopisches Denken zu jener Art von Gewaltanwendung verleite, welche aus abstrakten Maximen wie „die Menschen müssen zu ihrem Glück gezwungen werden“ folge. Menschen für eine nebelhafte Endzeit • der Utopie zu opfern, lehnen die Herausgeber ab und empfehlen Poppers Methode der rationalen Kritik des Bestehenden als Motor des Fortschritts, denn „Übel sind handgreiflich und Glück ist utopisch“.

Seither ist es um den in Wien gebürtigen Gelehrten wieder ruhig geworden. Sir Karl Popper - er wurde 1965 geadelt - lebt heute, 76jährig, zurückgezogen in der englischen Grafschaft

Buckingham, wo er sich seinen Arbeiten widmet, die über die Naturwissenschaften zur Gesellschaftstheorie bis hin zur Sprachphilosophie reichen. Wie er selbst feststellt, sei sein „kritischer Rationalismus“ eine noch in weiterer Entwicklung zu begreifende Lehre.

Poppers Gedankensystem erhielt seine entscheidende Prägung in Wien nach dem ersten Weltkrieg, wo er sich bereits als Student immer mehr von den Thesen des damaligen „Wiener Kreises“ mitM. Schlick, R. Carnap und O. Neurath distanzierte. Sein eigener erkenntnistheoretischer Entwurf „Logik der Forschung“, ein Werk, in dem er eine scharfe Kritik am Neo-Positivismus formulierte, wurde 1935 in Wien veröffentlicht

Poppers Theorienbildungen haben ihren Ursprung im Nachdenken über die Erfahrungswissenschaften, ihre Rationalität und über die Gesetze des Wissenschaftsfortschritts überhaupt. In logischer Konsequenz daraus entwickelte er seine Kritik an der marxistischen Gesellschaftstheorie, mit dem Angriff auf den positivistischen Glauben an ein historisches Entwicklungsgesetz der Kulturen oder Gesellschaften. Er erkennt, daß auch Marx ein unbedingt wirkendes Entwicklungsgesetz, das „ökonomische Bewegungsgesetz“ postulierte, was den Spielraum individueller Veränderungsbereitschaft von vornherein eingrenze. Dieser Veränderungsbereitschaft, heißt es bei Marx, falle dann nur die Funktion des „Abkürzens“ - zum Beispiel durch Revolutionen - der an sich schon historisch unvermeidlichen Veränderungen zu, wie das Heraufkommen eines neuen Sozialsystems.

Die Marx'sche Prophezeiung ist Popper die Konsequenz eines Determinismus, den er ablehnt. Popper glaubt nicht an einen verborgenen Sinn im Ablauf der Weltgeschichte und ist der Überzeugung, tdaß wir selbst der Geschichte ihren Sinn geben. Seine optimistische Idee der Sinngebung enthält die Forderung nach menschenwürdigen Idealen in einer pluralistischen „offenen“ Gesellschaft, die auf dem Wege der Gewaltlo-sigkeit und mit schrittweisen Reformen zu verwirklichen sei. Menschen einer offenen Gesellschaft können ihre Entscheidungen frei auf der Autorität ihrer eigenen Intelligenz gründen, betont Popper, wogegen der Glaube an historische Entwicklungsabläufe die Gefahr einer totalitären Gesellschaft kollektiver Normen und individueller Unfreiheit erzeuge.

Poppers Idee der offenen Gesellschaft basiert auf einer Grundentscheidung, der Entscheidung zur Rationalität auch im sozialen Bereich. Darin drückt sich auch Poppers humanitärer Glaube aus, der auf dem Glauben an die rationale Einheit des Menschen beruht, als den Wert jedes Menschen und immer wieder freigelegt werden muß.

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