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Offene Schleusen

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Die Pariser Abendzeitung „Le Monde“ kann für sich beanspruchen, so etwas wie das Gewissen der Nation zu sein. Während der IV. Republik wurde behauptet, „Le Monde“ sei das offizielle Sprachrohr der Regierung. Diese Feststellung konnte mit den Realitäten nicht in Einklang gebracht werden. Die Zeitung widmete lediglich eine Anzahl ihrer Seiten den Diskussionen um die großen Probleme der Gegenwart. Doch die Beiträge des Gründers und Direktors Hubert Beuve-Mery, die rar waren, wurden als kleine politische Sensationen gewertet. Als Beuve-Miry aus Altersgründen zurücktrat, übernahm Jacques Fauvet nicht nur die Leitung des Blattes, sondern auch die Gewohnheit, als Zensor und Mentor aufzutreten. Das politische Paris wartete mit Interesse, welche Meinung Jacques Fauvet nach der Rückkehr aus dem Urlaub über die politische und soziale Situation Frankreichs vertreten werde. Die beiden großen öffentlichen Diskussionen des Landes, die Wirtschaftspläne der Regierung also und die Spannungen innerhalb der linken Union, spiegelten sich in den Artikeln von „Le Monde“ wider. Man nahm an, der Direktor werde eine Synthese der widersprechenden Meinungen veröffentlichen. Mit Überraschung registrierte man daher in der Nutner von 23. September den ersten Leitartikel Jacques Fauvets, in dem er sich mit einem Roman, und dem danach gedrehten Film, „l'Histoire d'O“, auseinandersetzt. Er ist überzeugt, die Geschichte der O sei gegenwärtig genauso wichtig wie die unklare Situation auf wirtschaftlichem Gebiet. Während „Le Monde“ dem Werk einige Aufmerksamkeit schenkt, übertraf das Wochenmagazin „l'Express“, dessen sämtliche Septembernummern von fast nichts anderem sprechen, sich selbst. Gleich nach dem Erscheinen des Films konnte man auf 13 Seiten des Leibblattes Servan-Schreibers studieren, wie sehr es sich hier um ein zeitnahes Problem handelt.

Als vor 20 Jahren die vollkommen unbekannte Schriftstellerin Pauline Riage das erotische Werk „Geschichte der O“ veröffentlichte, wurde das Buch als literatische Sensation gewertet. Es stellte sich heraus, daß der Name Pauline Reage ein Pseudonym war und es gelang nicht, den wahren Urheber zu entdecken. Das Vorwort verfaßte der bekannte Kritiker Jean Paulhan, seines Zeichens Mitglied der Acad&mie Frangaise. Längere Zeit hindurch zirkulierte die Version, Paulhan sei der eigentliche Autor und verstecke sich, um die französische Akademie nicht in Mißkredit zu bringen. Die Kenner der modernen französischen Literatur sind sich darüber im klaren, daß die „Geschichte der O“ eine bedeutende Erscheinung auf dem Büchermarkt und mit dem berühmten Roman „Gamiani“, von Alfred de Musset vergleichbar ist. Das Buch war im Handel schwer zu erhalten. Wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften wurde der junge Verleger Jean-Jacques Pauvert in eine Untersuchung verwickelt, bei der allerdings nichts herauskam. Pauvert, ein Spezialist für marginale Schriftsteller, wie de Sade und Miller, wies darauf hin, daß zahlreiche Romane und Gedichte ursprünglich von der Zensur verboten worden seien. So wurde das Meisterwerk Baudelaires, „Les Fleurs du mal“, ebenso verurteilt, wie Gustave Flauberts „Madame Bovary“. Es stellte sich heraus, daß die „Geschichte der O“ von einer Frau geschrieben wurde, die auch heute nicht wünscht, ihre Identität preiszugeben. Sie fand sich zwar bereit, dem „Express“, der Teile ihres Romans abdruckt, ein Interview zu gewähren, denkt jedoch nieht daran, selbst nach dem Erscheinen des Films, an die Öffentlichkeit zu treten. Die französische Filmbranche hatte angenommen, daß man nach dem Buch niemals einen Film werde drehen können. Was gedruckt als intellektuelle Spielerei galt, mußte, ins Bildliche übertragen, zutiefst schok-kieren. Denn der Roman beschreibt in allen Einzelheiten, wie ein schönes junges Mädchen in totaler Versklavung den höchsten sinnlichen Genuß findet. Die reizende kleine 0 hat einen Geliebten, für den sie bereit ist, alle Opfer zu bringen. Dem jungen Mann genügt es nicht, O normal zu besitzen, darum bringt er sie an einen mysteriösen Ort, halb heidnisches Kloster, halb Bordell. In diesem phantastischen Rahmen werden junge Frauen Folterungen unterzogen und eine jeunesse dorie erfreut sich daran, ihre Gefährtinnen auszupeitschen und sonstigen Perversitäten zu unterziehen. Die Pensionärinnen tragen ständig Sklavenketten und müssen Tag und Nacht den Männern zur Verfügung stehen. Damit nicht genug, stellt der Liebhaber der O sie seinem besten Freund vor, einem verschrobenen englischen Lord, der sich einen Privatharem hält, wo es ebenfalls zu sadomasochistischen Szenen kommt. Auch lesbische Liebe wird praktiziert. Als höchstes Zeichen der Unterwerfung veranlaßt der Aristokrat die Brandmarkung der O mit seinen Initialen. Zum Abschluß bringt er die O in Ketten zu einer Party, wo sie, so gezeichnet und als Prototyp der vollkommenen Sklavin, die entsprechende Bewunderung erhält.

In einem vorzüglichen Französisch gelingt es der Verfasserin, drastisch die Selbstaufopferung einer Frau zugunsten des geliebten Mannes zu schildern. Denn die O liebt ihre beiden Peiniger und findet in der Verneinung des eigenen Willens den höchsten Genuß. Der Film folgt ziemlich getreu dem Buch.

Es handelt sich bei der neuen erotischen Welle um ein soziologisches Phänomen, das die einschlägigen Wissenschaftler beschäftigt, Angefangen hat es mit dem riesigen Erfolg des Films „Emmanuelle“, der allein in Paris 1,7 Millionen Zuschauer verzeichnete. Da Gegenwart und Zukunft so viele Fragen stellen, die Unruhe und Angst erzeugen, flüchten sich die Zeitgenossen in eine Traumwelt und versuchen sich in einer oft oberflächlichen philosophischen Deutung des Lebens. Objektive Beobachter werden lächeln, wenn sie die Pseudoheilmittel studieren, die von der Autorin der „Geschichte der

O“ in unzähligen Varianten angeboten werden. Diese Steigerung von Erotik und Pornographie stieß bisher auf keinen nennenswerten Widerstand. Die einst in Gewissensfragen so mächtige katholische Kirche wagt scheinbar nicht, derartige Herausforderungen, wie in früheren Zeiten anzunehmen, und gegen moralische Mißstände innerhalb der Gesellschaft Partei zu ergreifen. Es fiel auf, wie ungenügend die Äußerungen der Kirche während der Diskussion um die Schwangerschaftsunterbrechung und während der Debatte um die Reformierung des Ehescheidungsrechts waren. So entstand ein riesiger geistiger Hohlraum,, in den nun Kräfte verschiedenster Art einströmen. Erst Ende September verurteilte der Erzbischof von Paris, Kardinal Marty, die schrankenlose Darstellung von Gewalttaten und die Freizügigkeit von erotischen Szenen in Filmen und Büchern. Der Ober-hirte der französischen Metropole wies darauf hin, daß vier von fünf Kinos Pornofilme zeigen und daß 12 von 20 Streifen, die in der dritten Septemberwoche anliefen, in oft plumper Form Erotik propagieren. Die Regierung ist sich bewußt, daß die Aufhebung der Zensur zahlreiche Schleusen geöffnet hat. Man muß sich wirklich fragen, was noch alles gezeigt werden kann, da man bereits dazu überging, die Sodomie zu preisen. Der gleichzeitig mit der „Geschichte der O“ erschienene Film „Rollerball“ wurde von katholischer Seite als eine „Super-Show der Hoffnungslosigkeit“ bezeichnet. Das Staatssekretariat für kulturelle Angelegenheiten kündigte zwar an, es werde die rein pornographischen Filme mit der hohen Steuer von je 150.000 Francs belegen, doch die Produzenten und Verleiher fanden einen Ausweg, indem sie ihre Filme als künstlerisch-erotisch klassifizierten. Aber wo hört die Erotik auf und wo fängt die Pornographie an?

Auf alle Fälle dürfte es an der Zeit sein, gegen Auswüchse zu kämpfen und dieser Entehrung der menschlichen Würde entgegenzutreten.

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