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Ohne Glauben: Chaos und Terror

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Während meines letzten Aufenthalts in Tokio hielt ich vor einem volkswirtschaftlichen Kreis einen Vortrag und erwähnte zufällig die Max Weber'sche Wechselbeziehung zwischen Religion und Arbeitsmoral. In der darauffolgenden Diskussion erklärte ein Professor, daß das wirtschaftlich so erfolgreiche Japan einer schweren moralischen Krise entgegengehe.

Die beiden konfuzianischen Prinzipien von Chu (Loyalität) und Ko (Pietät) werden in Frage gestellt. Junge Menschen sagen ganz aufrichtig, daß nur ganz primitive Leute Konfuzius als Gottheit verehren und seine zwei Grundsätze lediglich die Uberzeugungen eines netten alten Chinesen sind, der vor über 2000 Jahren starb. Woher aber nimmt man ein Ethos?

In der fast zwei Stunden währenden Debatte, in der von der Wirtschaft nie mehr die Rede war, gab ich mein christliches Credo ab und verwies selbstverständlich nicht auf ein „natürliches Sittengesetz", das ich als Weltreisender in der Form, in der es von gewissen Theologen statuiert wird, für höchst fragwürdig halte.

So wird z. B. bei den Aucas (Ost-Ecuador) das Mädchen, das den jungen Mann sexuell nicht befriedigt, aufgespießt, und der Säugling, der zu viel schreit, in ein Erdloch gepreßt und von der lieben Mama niedergetrampelt. („Das nächste Mal werden wir ein Kind haben, das weniger schreit".) Man romantisiere eben nicht die gefallene menschliche Natur!

Nun sollen wir uns aber vor allen Vereinfachungen hüten. Religion ist primär nicht Moral, aber umgekehrt ist eine den einzelnen verpflichtende Moral ohne Religion undenkbar, wobei ein Offenbarungsglaube die stärksten Argumente bietet. Die Glorie des Christentums sind die Märtyrer, die Mystiker, die Heiligen viel eher als die intellektuell glänzenden Moraltheologen. Aber zweifellos ist eine in Mark und Bein übergegangene Religion mit ihrer Ethik ein ganz wichtiger Faktor in der Sittlichkeit eines Volkes.

Die heutige Krise der Autorität hat mit der Schwächung des Glaubens zu tun. Die Autorität ist eine in uns selbst verankerte (endogene) Kraft. Sie wirkt sich im Gehorchen aus: Ich folge, weil ich den Befehlenden liebe, seine geistige und moralische Überlegenheit anerkenne...

Die einzige Alternative zur Autorität ist die angsterregende Gewalt, eine exogene Kraft: Ich gehorche, weil ich sonst bestraft werde.

Im 19. Jahrhundert haben wir zwar keine religiöse Hoch-Zeit, aber die „automatisierte" christliche Ethik bestimmte weitgehend das allgemeine Verhalten. Die Uberzeugung, daß Mord, Totschlag, Diebstahl, Raub, Lüge, Fälschung, Ehebruch verwerfliche Dinge sind, war religiöses (christliches) Erbgut.

Heute aber leben wir vom Geruch einer leeren Flasche. Verfehlungen werden lediglich im Geist einer Tradition, einer noch allgemeinen Ubereinkunft abgelehnt, aber mit der Zeit nimmt auch das ein Ende. Der Ehebruch wird gesellschaftlich sanktioniert, die Ungeborenen werden umgebracht, die unheilbar Kranken möchte man gerne wieder beseitigen. Politiker nehmen sich das Recht zu lügen, Staaten bestehlen ihre eigenen Bürger.

Die Religion als Verwalterin göttlicher Gesetze, aber auch als richtliniengebende Kraft in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft und Bildung würde die heute steigende Kriminalität zweifellos vermindern. Wenn eine Rückkehr zum Glauben nicht bald einsetzt, wird in manchen Staaten und Städten das Leben bei schwindender Sicherheit unerträglich werden.

Dann kommt das Chaos oder die totalitäre Tyrannis, die nicht wenige der Sicherheit wegen wieder begrüßen würden. Sagte uns doch schon Joseph de Maistre, daß man Millionen von Menschen nur durch Religion oder Sklaverei regieren kann, mit anderen Worten, durch Autorität oder durch brutale Gewalt. Die Alternative liegt in unserer Hand.

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