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Ohne Illusion über UdSSR

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Von zwei der bedeutendsten Köpfe der sowjetischen Dissidentenszene liegen neue Werke vor: beides überaus wichtige Bücher, die ungeschminkt die Realität des Sowjetsystems aufzeiqen.

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Von zwei der bedeutendsten Köpfe der sowjetischen Dissidentenszene liegen neue Werke vor: beides überaus wichtige Bücher, die ungeschminkt die Realität des Sowjetsystems aufzeiqen.

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Als Andrej Amalrik 1980 auf dem Weg zur KSZE-Nach- folgekonferenz in Madrid bei einem Autounfall ums Leben kam, verlor die russische Dissidentenszene einen ihrer besten, scharf-sinnigsten Köpfe. Nichts zeigt dies besser als seine autobiographischen „Aufzeichnungen eines Revolutionärs“, in denen Amalrik die zehn Jahre vor seiner Ausreise aus der Sowjetunion 1976 behandelt.

Sechs von diesen zehn Jahren verbrachte Amalrik in Arbeitslagern beziehungsweise in der Verbannung. Sein Blick auf das Sowjetsystem blieb deswegen nicht getrübt. Denn, wie Amalrik feststellte: „Das Lager stellt einen Mikrokosmos der sozialistischen Gesellschaft dar.“

Der Autor von „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ hatte auch in diesem Buch wieder seinen scharfen analytischen Verstand vorgezeigt.

Amalrik war aber nicht nur Analytiker, sondern auch ein hervorragender Erzähler, der unerschrocken, sarkastisch, ironisch und zornig sein konnte. Dennoch war er stets um Differenzierung bemüht.

Furchtlos zeigte sich Amalrik im Umgang mit seinen Erzwidersachern vom KGB, was man in diesem Buch immer wieder sehen kann. Warum er sich das erlauben konnte:

„Ich hatte erkannt, daß die Möglichkeiten des KGB zwar groß, aber nicht unbegrenzt sind — daß sie sich trotz allem nicht über gewisse Formalitäten hinwegsetzen können. Und wenn man begreift, wie die Maschine der Bürokratie arbeitet, kann man Sand ins Getriebe streuen. Der Übergang von einer .mythischen* zu einer .funktionalen* Betrachtungsweise der repressiven Gewalt zeigte ebenso eine mögliche Kampfweise auf wie auch die Unumgänglichkeit taktischer Kniffe.“

Sarkastisch, aber auch sehr realistisch, sah Amalrik die Beziehung zwischen Sowjetvolk und Staatsführung: „Ich möchte nicht behaupten, daß das Volk im allgemeinen dem Regime gegenüber negativ eingestellt ist... Die Einstellung vieler kann man als ein passives Sich-Fügen bezeichnen. Sogar die .Liebe des Volkes*, die die Propaganda die ganze Zeit herunter leiert, ist keine reine Fiktion. Wenn einem täglich Gewalt angetan wird, so muß man den Gewalttäter entweder hassen oder liebgewinnen, der Haß aber erfordert eine größere Anstrengung, und die .Liebe des Volkes* zum Staat ist von dieser Art.“

Und weiter: „Wenn ich höre, daß man sechzig Jahre einfach vergessen und zu den Werten des vorrevolutionären Rußland zurückkehren oder aber die westlichen Werte übernehmen könnte, stehe ich beiden Gesichtspunkten skeptisch gegenüber.“

Wenn man dieses Buch aus der Hand legt, ist man um so manche Illusion über das Sowjetsystem ärmer. Das betrifft auch das Wirken der Opposition in der Sowjetunion, deren Möglichkeiten und Grenzen Amalrik als einer der ehemaligen Hauptaktivisten hier klar aufzeigte.

Dennoch wäre es fatal, die Solidarität mit den sowjetischen Bürgerrechtskämpfern erlahmen zu lassen, weil man um die beschränkten Wirkungsmöglichkei ten der Opposition weiß und weil das Moskauer Regime alles unternimmt, um Kontakte dieser mit verzweifeltem Mut Kämpfenden mit dem Ausland zu unterbinden.

Im Gegenteil: Noch viel mehr müßte unternommen werden, um den Bürgerrechtlern im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten Unterstützung angedeihen zu lassen. Schon aus dem Grund, den Amalrik so darstellte:

„Eine Sicherheitsgarantie für den Westen kann nur eine Demokratisierung des Sowjetsystems bieten. Solange zehn Menschen in der UdSSR ohne Kontrolle über Krieg und Frieden entscheiden, solange können keinerlei Verträge, wie vorteilhaft auch immer sie sich auf dem Papier ausnehmen mögen, Europäern und Amerikanern einen ruhigen Schlaf garantieren.“

Nach dem Abschuß einer Passagiermaschine in Ostasien durch sowjetische Kampfflugzeuge kommt diesen Worten mehr Gewichtigkeit denn je zu ... AUFZEICHNUNGEN EINES REVOLUTIONÄRS. Von Andrej Amalrik. Ullstein-Verlag, Berlin-Wien 1983. 414 Seiten, geb., öS 258,50.

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