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Binnen einem Jahrfünft soll das Arabische die französische Sprache aus dem öffentlichen Leben Algeriens verdrängt haben. Arabisch ist zwar heute schon offizielle Landessprache des nordafrikanischen Staates, doch obwohl sich Präsident Boumedienne bei seinen Reden seiner bedient und die amtliche Tageszeitung „El-Moudjahid“ arabisch erscheint, spricht man in den Städten noch immer vorwiegend das Idiom der einstigen Kolonialmacht.

Das Verhältnis zu Frankreich ist im übrigen zufriedenstellend. Trotz des „ölkrieges“ blieben die Franzosen Hauptabnehmer algerischen Erdöls und Ergases sowie algerischen Weines. Frankreich seinerseits stellte der Regierung in Algier rund 700 Lehrer und Entwicklungshelfer zur Verfügung, die ein ausgezeichnetes Verhältnis zu den Einheimischen besitzen und von den Behörden des Gastlandes überaus gelobt werden. Das Ergebnis ist, daß Studenten, Intellektuelle und Stadtbewohner noch immer häufiger und besser französisch als arabisch sprechen und verstehen und daß Haß und Mißtrauen aus dem siebenjährigen Kampf der Algerier gegen die Franzosen einer vertrauensvollen freundschaftlichen Kooperation gewichen sind.

Das gute Verhältnis zur einstigen Kolonialmacht wurde bei den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der algerischen Unabhängigkeitseririärung als einer der wichtigsten Erfolge des Regimes Boumedienne herausgestellt. Das Bemühen Algiers um gute Beziehungen zu allen Mächten wurde bei derselben Gelegenheit durch die Anwesenheit von Delegationen aus allen arabischen Staaten sowie aus Ost und West unterstrichen.

Industrialisierung

Die Machtergreifung des ehemaligen Obersten Boumedienne war das Ergebnis eines Militärputsches. Sein Vorgänger Ben-Bella befindet sich unter Hausarrest, und niemand rechnet mit einem Prozeß gegen ihn oder mit seiner Freilassung. Algerien ist keine Demokratie im westlichen Sinn, aber auch keine Diktatur. Heute können in Algier die politischen Gegensätze frei diskutiert werden. Präsident Boumedienne gewann durch eine Zahnoperation an Sicherheit im Auftreten und durch die breite Zustimmung zu seiner Politik an Ansehen bei der eigenen Bevölkerung und in der arabischen Welt.

Besonders bemerkenswert sind die Fortschritte Algeriens auf dem wirtschaftlichen und sozialen Sektor. Während des Freiheitskampfes mußte eine Million Algerier ihr Land verlassen. 1962 waren drei von vier Arbeitswilligen erwerbslos, heute herrscht in einigen Teilen des Landes bereits annähernd Vollbeschäftigung und die unterentwickelten Zonen auf dem flachen Land verschwinden in raschem Tempo. Die

Landwirtschaft überwand die Katastrophe des französischen Exodus. Auf dem Rebengelände wird mehr und mehr Weizen angebaut, um die Absatzsorgen für algerischen Wein zu verringern. Die Domänen, deren Bodenbesitz von den jetzigen Eigentümern meistens spottbillig aus französischer Hand erworben wurde, sollen an Landarbeiter verteilt werden.

Große Fortschritte macht vor allem die sich auf die Erdölproduktion stützende Industrialisierung. Die Algerier erweisen sich, wie westliche Entwicklungshelfer bestätigen, als zuverlässige Industriearbeiter, begabt im Umgang mit der modernen Technik. Algerien ist auf dem besten Weg, das erste arabische In-' dustrieland zu werden. Erweist sich Oberst Boumedienne auf diesem Gebiet als weitsichtiger Volkswirtschaftsfachmann, verhält er sich auf anderen Sekteren erstaunlich konservativ. Obgleich Frauen im algerischen Unabhängigkeitskrieg eine führende Rolle spielten, gibt es keine echte Gleichberechtigung der Frau, und man verbietet Miniröcke und geglättetes oder gefärbtes Haar. Folglich bietet der immer noch weitverbreitete islamische Gesichtsschleier einen pittoresken Gegensatz zum sozialen Klima eines werdenden Industriestaates.

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