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Ohne Tabus und Werte: Verwahrloste Kinder

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Der Charakter des Menschen wird nicht nur von Erbanlagen, sondirn auch von Erziehung und Umwelteinflüssen geformt. Seine Entfaltung wird nicht durch größtmögliche Freizügigkeit am besten gefördert.

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Der Charakter des Menschen wird nicht nur von Erbanlagen, sondirn auch von Erziehung und Umwelteinflüssen geformt. Seine Entfaltung wird nicht durch größtmögliche Freizügigkeit am besten gefördert.

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Vielen scheint es, als ob Werte, Normen und Tabus allenfalls dazu angetan seien, den Menschen von sich selbst wegzuführen, ihn der Möglichkeit zu eigenständiger, normloser Freiheit zu entfremden, als bedeuteten Ordnungen und Gesetze für die Person immer Fremdherrschaft, Auf diesem Weg nun sind wir freilich in letzter Zeit unversehens in ein von Schlinggewächsen durchsetztes Fahrwasser geraten, und zwar durch folgenden Fehlschluß: Wenn die Umwelt den Menschen durch Fremdherrschaft schädigt, so schalte man doch diese falsche Umwelt aus und schaffe einfach eine Gesellschaft, die nicht einengt! Man schaffe doch eine alles erlaubende Gesellschaft, um die volle Entfaltung des Menschen zu erwirken!

Wir haben aber in der Praxis erfahren, daß diese Lehre die Freiheit des Menschen maßlos überschätzt. Wir wissen heute zwar, daß durch bestimmte unzureichende Umweltbedingungen in gesetzmäßiger Starre typische Charakterverbiegungen, typische seelische Leiden hervorgerufen werden können. Wir haben aber auch im Alltag lernen müssen, daß der Mensch keineswegs grenzenlos plastisch und ohne Schaden willkürlich und grenzenlos manipulierbar ist.

Wir sind mit Hilfe der Kinderpsychotherapie keineswegsauf die Ab-solutheit der Normfreiheit, wir sind ■durch unsere Erfahrungen mit seelischen Störungen des Menscheri keineswegs auf menschliche Autonomie, sondern gerade auf die Begrenztheit des Menschen, auf die Beschränkung menschlicher Möglich-.keiten, menschlicher Erziehbarkeit gestoßen. Auf dieser unbewußten Erkenntnis fußen anscheinend auch viele der alten Tabus.

Ein ungeschriebenes Tabu durch alle Völkerscharen und Zeiten der Menschheit hindurch war es zum Beispiel, daß es als böse galt, wenn eine Mutter ihren hilflosen Säugling nicht versorgte. Wenn man nun aber wie bei uns in der Bundesrepublik Deutschland eine riesige Kampagne startet und die Frauen von ihren Säuglingen und Kleinkindern fort in die Berufe drückt und die Kinder, statt ihre urtümlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit und Leibnähe durch das eine mütterliche Du zu befriedigen, nach allen Regeln der Kunst wirtschaftswunderlich durch ihre Kindheit hindurch verwöhnt mit Ersatzpräparaten, mit Tagesmüttern, Kinderkrippen, Ganztagskinderstät-ten und der großen, großen Ersatz-Großmutter Fernsehapparat im Wohnzimmer - wenn man mit Kindern so umgeht, dann züchtet man ein Heer von Verwahrlosten heran.

Sie manifestieren sich heute in allen möglichen antisozialen Variationen, wie sie nun einmal dem individuellen Frühschicksal entsprechen -als aggressive oder als sexuelle Verwahrlosung, als Kleptomanie, Hochstapelei, Landstreichertum oder als Suchterkrankung usw.

Ideologisierung eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffes auf dem Boden der Vorstellung „Der Mensch ist gut, wir lassen ihn in allem gewähren" führt zu Minderungen in der Eigenentfaltung des Menschen. Werden Kleinkinder durch ein solches künstlich erdachtes Tabu ihrer Eltern gehindert, an ihren Erziehern zu erfahren, daß ihren Ich-Ausweitungen unumstößliche Grenzen gesetzt sind, daß jeder Mensch zwar ein Recht hat, einen bestimmten Entfaltungsraum um sich zu haben, daß die Grenze aber dort beginnt, wo der Entfaltungsspielraum des anderen gefährdet ist - erfährt ein Kind das in der Erziehung nicht, so werden aus solchen Kindern der Laissez-faire-Erziehung schließlich unglückliche Ungeheuer, die von ihren unersättlichen Aggressionen immer wieder überflutet werden, die sich später keineswegs sozial verhalten können, sondern von aufgeblähter Egozentrik sind. Das Wesen Mensch wird auf diese Weise nicht zu seiner ihm innewohnenden Entfaltung gebracht, sondern es wird durch hemmungsloses Freilassen in seiner Entfaltung verstümmelt.

Ich kann die Gesetze, die auf diese Weise in der Praxis sichtbar werden, hier nur andeuten. Aber eines ist sicher: Wenn der Mensch die Chance bekommen will, als Erwachsener nicht ständig durch beschädigte Antriebe in seiner Willensfreiheit behindert zu sein, hat er es nötig, sich an bestimmte Entfaltungsvorschriften der Erziehung, an echte Tabus zu halten.

Diese Vorschriften können nicht, wenn sie das Ziel - die Entscheidungsfreiheit des mündigen Menschen - erreichen wollen, nach eigener Maßgabe ausgedacht werden an irgendeinem Schreibtisch irgendeines Erziehungsministers. Diese Vorschriften sind eine Folge des genauen

Beobachtens und Erforschens der Entfaltungsbedingungen des Menschen. Echte Tabus sind der Niederschlag solcher Beobachtungsergebnisse durch Generationen hindurch.

Der Mensch ist am Anfang seines Lebens von ehernen Naturgesetzen abhängig. Die Chance, als Mensch einen Status zu erreichen, in dem er wirklich frei ist, in dem ihm Freiheit von den Naturgesetzen möglich wird, diese Chance kann ihm in der Erziehung nur zuteil werden, wenn seine Entfaltungsbedingungen beachtet werden. Der Mensch wird also nicht gegen alle Unbill Mensch. Das Genie setzt sich nicht um jeden Preis durch.

Die oft geradezu gleich aussehenden Verhaltensstörungen von Kindern und Tieren, denen man die ihnen' adäquaten Entwicklungsbedingungen versagte, haben uns gezeigt, daß der Mensch, wenn seine Reife mißlingt, geradezu in vortierische Stadien zurückfallen kann, d. h., er erreicht nicht die Stufe, in der er in der Lage wäre, auf Grund von Reflexion und Einsicht nach freiem Entschluß zu handeln, sondern er verfällt der Herrschaft ungesteuerter, überschießender, durchbrechender Antriebe.

Entwicklungspsychologisch gesehen ist also die Welt der Tabus die adäquate Passung für Lebewesen, deren geistig-seelischer Status die Vorschrift unumgänglich nötig macht. Freiheit von unserer Natur als

Menschen setzt ihre geistige Integration, aber keineswegs ihre Vergewaltigung, Verdrängung oder Vernachlässigung voraus. Erst ein Mensch, der bewußt in der Lage ist, der Natur zu geben, was der Natur gebührt, hat dann allmählich die Chance, eine Reifestufe zu erreichen, in der Raum ist für verantwortungsbewußtes Handeln als erwachsener Mensch.

Erst einem wirklich mündigen Menschen ist es möglich, den äußeren Sittenkodex durch persönliche Entscheidungsfreiheit zu ersetzen, da er sich dann im Status seiner Mündigkeit freiwillig dem Geist der Liebe als einem Gradmesser seines Handelns unterstellen kann. Dieser Status ist aber geradezu bestimmt durch die Einsicht der Notwendigkeit von tabuierenden Ordnungen. Er ist bestimmt durch die persönliche Entscheidung, sich selbst - um der anderen willen - in Ordnungen einbinden zu können.

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