6837093-1975_21_01.jpg
Digital In Arbeit

Ohnmächtige Großmächte

Werbung
Werbung
Werbung

Rissinger traf Gromyko in Wien. Die wichtigsten Ergebnisse solcher Rendezvous erfährt die Welt meist viel später. Im vorliegenden Fall erscheint uns allerdings die Frage nach der Wertigkeit dieses Gespräches wichtiger als die nach seinem Inhalt. Denn die Zeiten, da die ganze Welt gebannt auf Gipfelkonferenzen starrte, wissend, daß ihr Schicksal von den Entscheidungen der Supermächte abhing, sind unwiderruflich vorbei. An die Stelle der alten Frage, was die Großmächte beschlossen haben, tritt heute die Frage, welche Beschlüsse sie überhaupt noch in die Tat umzusetzen vermögen.

In West- und Mitteleuropa gibt es heute noch zwei Länder, deren Zukunft zum Gegenstand echter Großmächte-Entscheidungen werden könnte: Portugal und Jugoslawien. Im letzteren Fall wurde noch nie ein Ansatzpunkt sichtbar, wie die USA Einfluß auf die Entwicklung eines Nach-Tito-Jugoslawien nehmen könnten. Hingegen zeichnet sich immer deutlicher die Wahrscheinlichkeit ab, daß Jugoslawiens Re-In-tegration in den Ostblock nur bis aum Tod des greisen Marschalls ausgesetzt ist. Jugoslawiens innenpolitische Entwicklung tendiert zu einer Angleichung der Verhältnisse. Und der Ostblock, dem Jugoslawien nach Tito mit großer Wahrscheinlichkeit nähernücken wird, ist ohnehin nicht mehr der Ostblock der stalinistischen fünfziger Jahre, sondern eine Gemeinschaft von Staaten, die einander außenpolitisch respektieren, solange der straffe, polizeistaatliche innenpolitische Kurs gewahrt wird. Jugoslawiens innere Entwicklung deutet darauf hin, daß es eines sowjetischen Einmarsches kaum bedürfen wird.

Über Portugal hingegen hat Kissinger mit Gromyko sicher gesprochen. Kissinger — der Außenminister eines Landes, das wenige Tage zuvor im Golf von Thailand wieder einmal seine Knallen gezeigt hat.

Hier wird das große Rätselraten einsetzen: Hat ein harter Kissinger der Sowjetunion ein Bis-hierher-und-nicht-Weiter in Sachen Portugal gezeigt? Hat ein weicher Kissinger die westlichen Positionen in Portugal aufgegeben? Hat Portugal irgendeine Rolle als Tauschobjekt für nah-östkche Interessen gespielt? Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, es sei denn auf Grund der portugiesischen Tatsachen. Denn man darf nicht übersehen, daß auch die portugiesische Entwicklung längst ihrer inneren Gesetzlichkeit folgt und wahrscheinlich auch Portugal bereits ziu jenen Ländern gehört, über deren Schicksal die Außenminister der beiden Supermächte zwar reden, nicht aber unbedingt entscheiden können.

In Wien haben die Außenminister zweier ohnmächtiger Großmächte •miteinander verhandelt. Amerika leckt frische vietnamesische Wunden. Rußlands chinesische Amputation äst vernarbt. Was in Südostasien jetzt geschieht, bedeutet weiteren Schaden für beide. Amerika konnte im Golf von Thailand wenigstens Härte beweisen, Moskau die beispiellose Brüskierung und Abschiebung seines Botschafters in Phnom Penh nur schweigend hinnehmen.

Ein Triumph für China? Sehr gro-

ßes Fragezeichen. Die Entwicklung in Südostasien weist in eine andere Richtung. Hier wächst allem Anschein nach ein drittes kommunistisches und ein weiteres weltpolitisches Machtzentrum heran, denn Kambodscha hat wenig Chancen, Eigenständigkeit gegenüber Vietnam zu bewahren. Vietnamesen und Thai sind die Erbfeinde der Khmer, und im Norden grenzt Kambodscha nicht an China, sondern an das vietnamesisch majorisierte Laos. Ein kommunistisches Indochina unter vietnamesischen Fittichen hätte erhebliches weltpolitiches Gewicht. Die Konsolidierung wird Jahre dauern — aber nicht nur USA und Sowjetunion, sondern auch China werden die Einbuße an Macht und Einfluß fühlen.

Womit sich die wesentlichste politische Entwicklung der letzten Jahre auf die Formel bringen läßt, daß in einer zunehmend polyzentrischen Welt die Supermächte aufgehört haben, Ordnungsmächte zu sein. Im Zeitalter der Waffen, die vorerst zu schrecklich sind, um sie zu gebrauchen, ist die Macht der Ordnungsmächte nur so groß wie die Angst, die man vor ihnen bat. Und seit im Nahen Osten wie in Indochina kleine und kleinste Mächte ohne Rücksicht auf die Großmächte und ihre Machtworte genau jene Politik verfolgen, die ihnen für sich selbst richtig erscheint, ist die Angst vor den Ordnungsmächten dahin — und damit deren Macht, zu ordnen.

In Wien haben zwei entwaffnete Weltpolizisten miteinander verhandelt. Vielleicht haben sie einander ihr Beileid ausgesprochen. Sie haben die Macht, die Welt zu zerstören, aber nicht, sie zu ändern. Das Gipfeltreffen war kein Gipfeltreffen, denn keiner der Teilnehmer steht auf irgendeinem Gipfel irgendwelcher echter weltpolitischer Macht. Der Begriff der Weltmacht gehört der Vergangenheit an.

Das ist kein Anlaß zur Freude, denn um so gefährlicher können regionale Mächte jeglichen Zuschnitts werden. Amerika hat sich in den letzten ein, zwei Jahren schreckliche Blößen gegeben — müßig, der Sowjetunion vorzuwerfen, sie habe hier oder dort von diesen Blößen Gebrauch gemacht. Die moralische Konsolidierung, die mit dem harten Zugriff in der Mayaguez-Affäre zaghaft begonnen hat, ist ein kleiner Hoffnungsschimmer auf eine Entwicklung, die Amerikas weltpolitisches Gewicht wieder etwas erhöht.

Die Welt, in der wir in den nächsten Jahren werden leben müssen, wird aber trotzdem von der Labilität des Gleichgewichts im Polyzentris-mus gekennzeichnet sein. Was immer die Weltpolizisten in Wien besprochen haben — jeder kann sich ausrechnen, daß sie mehr unbeantwortete, unbeantwortbare Fragen auszutauschen als Entscheidungen zu treffen hatten. Verlassen kann sich auf den Schutz dieser Weltpolizisten ohne Waffen, dieser englischen Bobbys in einem gefährlichen weltpolitischen Alt-Soho, niemand mehr. Konventionelle Abrüstung ist leider total out. Vor allem für mittlere und kleine Mächte. Auch Europa weiß heute, daß es für seinen eigenen Schutz selbst sorgen muß. Glücklich, wer dabei nur äußere Gegner hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung