6829982-1974_33_07.jpg
Digital In Arbeit

Olrausch-Wahlen

19451960198020002020

Wenn man beute in England einem einheimischen Gesprächspartner gegenübersitzt, dauert es nicht lange, und er beginnt —, gleichgültig, welches Thema gerade abgehandelt wird, von Erdöl zu reden. Vom Erdöl, das in der Nordsee gefunden wurde, von dem man nur weiß, daß seine Förderung sehr schwierig und kostspielig sein wird und von dem man noch nicht ganz genau weiß, wann es überhaupt gefördert werden kann. Optimisten sprechen vom Jahr 1980. Die Verheißung Erdöl hat in Großbritannien bis hinauf in höchste politische und wirtschaftliche Kreise eine Faszination ausgelöst, die nur noch mit dem Goldrausch im Amerika früherer Wildwestfilme zu vergleichen ist: es ist gleichsam ein „ölrausch“.

19451960198020002020

Wenn man beute in England einem einheimischen Gesprächspartner gegenübersitzt, dauert es nicht lange, und er beginnt —, gleichgültig, welches Thema gerade abgehandelt wird, von Erdöl zu reden. Vom Erdöl, das in der Nordsee gefunden wurde, von dem man nur weiß, daß seine Förderung sehr schwierig und kostspielig sein wird und von dem man noch nicht ganz genau weiß, wann es überhaupt gefördert werden kann. Optimisten sprechen vom Jahr 1980. Die Verheißung Erdöl hat in Großbritannien bis hinauf in höchste politische und wirtschaftliche Kreise eine Faszination ausgelöst, die nur noch mit dem Goldrausch im Amerika früherer Wildwestfilme zu vergleichen ist: es ist gleichsam ein „ölrausch“.

Werbung
Werbung
Werbung

Hinter der Prophezeiung, man werde über schier unbegrenzte Mengen Rohöls verfügen, scheinen alle politischen und wirtschaftlichen Probleme in den Hintergrund zu treten. Ob arm, ob reich, rechnen sich die Briten jetzt schon aus, wie sie gleich den Bewohnern des bereits legendären Schelchtums Abu-Dhabi im Uberfluß leben, ohne besonders auf die Produktivität sehen zu müssen. Denn mit der Arbeitsproduktivität liegt es im argen in Großbritannien. Industrielle wie Gewerkschafts- oder Labourpolitiker geben es gleichermaßen zu: während des Bergwerk -Streiks und der damit verbundenen Energiekrise im vergangenen Winter ist anläßlich der temporären Einführung der 3-Tage-Woche die Produktivität nicht wesentlich zurückgegangen — man spricht von 8 bis 12 Prozent.

Viel schuld an den gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Großbritannien sind die Gewerkschaften, die nicht wie in Österreich zentralistisch organisiert und von oben nach einer einheitlichen politischen Linie gesteuert, sondern zersplittert und untereinander uneins sind. Noch mehr schuld an dem derzeitigen Zustand ist aber das denkbar schlechte Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und der derzeit noch im Amt befindlichen Labour-Regierung unter Premierminister Wilson. Heute geben sogar prominente Labour-Politiker, ja Regierungsmitglieder des gegenwärtigen Kabinetts zu, daß die von der vorherigen Regierung des konservativen Premierminister Heath erlassene „Industrial Relations Act“, also ein Versuch der gesetzlichen Regelung der Gewerkschaftsbewegung, immerhin ein Ansatz zu geordneten Beziehungen zwischen Arbeitnehmervertretung und Regierung war. Die jetzige Labour-Regierung, die das Gewerkschaftsgesetz sofort wieder außer Kraft gesetzt hat, tut sich daher furchtbar schwer. Sie versucht, mit gütlichen Absprachen ein halbwegs friktionsfreie Verhältnis zu den Gewerkschaften zu unterhalten, was allerdings bisher als gescheitert bezeichnet werden muß. Es steht daher praktisch bereits fest, daß im Herbst wegen der zunehmenden Schwierigkeiten der in der Minderheit befindlichen Labour-Regierung Neuwahlen stattfinden Ein prominenter britischer Industrieller erklärt auf die Frage, was getan werden müsse, um das Land aus der derzeitigen, vor allem wirtschaftlichen Misere herauszuführen: „Zunächst brauchen wir eine Regierung — denn derzeit haben wir praktisch keine.“

Als Wahltermin dürfte Mitte Oktober in Frage kommen und der Ausgang steht völlig in den Sternen. Denn die Regierungsform einer Koalition ist den Briten fremd. Trotzdem scheint es erfahrenen Beobachtern der politischen Szenerie in Großbritannien derzeit gar nicht so absurd, daß nach der Herbstwahl die Konservativen versuchen werden, mit den Liberalen zusammen — die im letzten Wahlgang beachtliche Stimmengewinne erzielen konnten — eine Art Koalition, ähnlich kontinentalen Beispielen, zu installieren. Der „ÖLrausch“ im Lande spielt aber auch im Zusammenhang mit den kommenden Wahlen eine beachtliche Rolle: der Nationalismus, der schon bei der letzten Wahl deutlich im Vormarsch begriffen war, spielt eine immer größere Rolle. Immerhin träumen bereite vor allem die Schotten vom großen Reichtum,der aus dem öl kommt Und die schottische Nationalpartei konnte sehr große Stimmengewinne verbuchen.

Derzeit wagt niemand, vorauszusagen, wie die Herbstwahl wirklich ausgehen wird. Doch spielt im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes eine emotiell sehr hochgespielte Frage eine bedeutende Rolle: die Beziehungen Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft Labour-Politiker drängen darauf, nach einer vielleicht von ihrer Partei gewonnenen Wahl die Verträge mit der EG zu überprüfen. Sie wollen eine Volksabstimmung darüber initiieren, ob das Land die Mitgliedschaft aufrechterhalten soll oder nicht Diese Politiker sind oft der Meinung, die EG-Mitgliedschaft habe Großbritannien noch mehr in die wirtschaftliche Krisensituation hineingeführt; das Preisgefüge der wichtigsten EG-Staaten passe mit dem britischen Preisniveau nicht zusammen, ebenso das Lohnniveau; dadurch entstünden starke infla torische Tendenzen. Überdies sei Großbritannien, nicht zuletzt auf Grund alter Bindungen zu seinem (langsam abbröckelnden) Commonwealth, in der Lage, sich selbst zu versorgen. Daß eine solche Entscheidung aber großräumig gesehen enorme Konsequenzen nach sich zieht, will man nicht wahrhaben.

Demi Großbritannien, und das sehen auch Einsichtige ein, kann sich heute keine Isolation von Europa mehr leisten: politisch nicht — und wirtschaftlich schon gar nicht.

Politisch deshalb nicht, weil es sich einer Isolation vom Atlantischen Verteidigungsbündnis NATO im Hinblick auf seine eigene Sicherheit nicht aussetzen kann und wirtschaftlich, weü dies eine schwere Unruhe in die ohnedies nur mit größter Mühe zusammengehaltenen Neunergemeinschaft bringen würde. Man darf nicht vergessen, daß etwa aus norwegischer Sidit ein vereinigtes Skandinavien außerhalb eines vereinten Europa durchaus denkbar ist Und ein Austritt Großbritanniens aus der EG würde zumindest Dänemark mit seinen starken Außenhandelsbindungen an die Briten sofort veranlassen, ebenfalls die Geineinschaft zu verlassen.

Ein prominenter Konservativer, zu seiner Meinung um diese politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Landes befragt, meint offenherzig: „Ich möchte jetzt nicht in der Haut der Labour-Regierung stekken,“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung