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One Land“ one vote?

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„One man, one vote“ ist ein fundamentaler Grundsatz aller parlamentarischen Demokratie, der besagt, daß die Stimme jedes wahlberechtigten Bürgers das gleiche Gewicht haben muß. Die meisten westlichen Demokratien haben aber darüber hinaus in ihren Zweiten Kammern auch den Grundsatz verwirklicht, jeder in einer Zweiten Kammer, heiße sie Senat oder Bundesrat, vertretenen Region das gleiche Stimmgewicht zu verleihen. In Osterreich sieht es anders aus. Vorarlbergs Landeshauptmann Herbert Kessler vertritt den Grundsatz, daß kleine Bundesländer nicht im Bundesrat nur ein Viertel des Gewichtes etwa Wiens haben sollten: „one land — one vote!“

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„One man, one vote“ ist ein fundamentaler Grundsatz aller parlamentarischen Demokratie, der besagt, daß die Stimme jedes wahlberechtigten Bürgers das gleiche Gewicht haben muß. Die meisten westlichen Demokratien haben aber darüber hinaus in ihren Zweiten Kammern auch den Grundsatz verwirklicht, jeder in einer Zweiten Kammer, heiße sie Senat oder Bundesrat, vertretenen Region das gleiche Stimmgewicht zu verleihen. In Osterreich sieht es anders aus. Vorarlbergs Landeshauptmann Herbert Kessler vertritt den Grundsatz, daß kleine Bundesländer nicht im Bundesrat nur ein Viertel des Gewichtes etwa Wiens haben sollten: „one land — one vote!“

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Das Wort „Föderalismus“ bedeutet eine bestimmte Dynamik im Staatswesen, in Beziehung gesetzt zur Staatsgewalt. Dabei handelt es sich nicht um ein Streben nach Emanzipation oder Separatismus, sondern um eine Bewegung, die ein Bündnis, einen Pakt voraussetzt (Födus — Bündnis, Vertrag), zu dem sich die Länder zusammengeschlossen haben. Föderalismus ist zu unterscheiden von Dezentraiismus, der ein reiner Zustand ist und bei dem gewisse staatliche Gewalten in bestimmter Art geordnet sind.

Der Föderalismus ist mit der Freiheit aufs engste verbunden. Niemand kann sein Wesen besser erfassen als der im Naturrecht verwurzelte Christ. Die Grundvorstellung des Föderalismus besteht darin, die in ihrer Würde und Freiheit gesicherte menschliche Persönlichkeit in eine geordnete, sich gegenseitig stützende, vom Kleinen ins Große wachsende Gemeinschaft einzufügen. Es ist notwendig, dem staatlichen Wirken Grenzen zu ziehen, um die persönlichen Bereiche des sozialen Lebens, das Ich, die Ehe, die Familie, die Gemeinde und daran anschließend die höheren Verbände gegen eine das Leben mechanisierende Staatsgewalt zu schützen. Diese Grenzziehung ist das Wesen des Föderalismus.

Echte Selbstverwaltung, wie sie die bundesstaatlichen Gebilde im föderalistischen Bundesstaat erlangen müssen (Bund, Länder, Kantone, Gemeinden) hat mit Abkapselung nichts zu tun. Föderalismus ist das Gegenteil von Verengung; jene Freiheit, die der Föderalismus fordert, hat den Zweck, die persönliche Initiative für Gemeinschaftsleistungen zu entwickeln. Föderalistisches Denken scheut jene Tendenz zur Ver-. gewaltigung, die zentralistischen Organisationsformen oft eignet.

Der Zentralismus sucht Lösungen von einem Punkt aus und will das, was nicht in sein Schema paßt, in Vorschriften einengen und damit überwinden. Eine lebensnahe Behandlung der Dinge aber macht es nötig, daß man sie von allen Seiten betrachtet. Der Föderalismus bietet verschiedene Standpunkte, er ist deshalb zur Lösung der Gemeinschaftsaufgaben hervorragend geeignet.

Das Subsidiaritätsprinzip besagt als Regel für ein richtiges gemeinschaftliches Zusammenleben, daß jeder einzelne und jede Gemeinschaft so viel Verantwortung selbst übertragen bekommen soll, wie sie zu tragen vermögen. Auf die österreichischen Bundesländer übertragen heißt dies, daß sie grundsätzlich alle jene Aufgaben übertragen bekommen und selbst regeln sollten, die nicht notwendigerweise dem Bund zukommen, weil sie die Kräfte der Gliedstaaten, der Länder, übersteigen. Das ist der eigentliche Geist der Bundesverfassung von 1920.

Auch im Verhältnis des einzelnen zum Staat ist das Subsidiaritätsprinzip von großer Wichtigkeit. Der Staat nimmt zwar heute viele Leistungen für den einzelnen auf sich, tut dies aber nach einem mechanisierten Prinzip. Dem einzelnen sollte die Sorge um all jene Dinge übertragen bleiben, wo er bei ernstem Bemühen in der Lage ist, diese Aufgaben selbst zu erfüllen. Im einzelnen wird so das Bewußtsein gestärkt, daß er für sich und den anderen Verantwortung trägt. Der berühmte Naturrechtslehrer Messner sagt: „Das Subsidiaritätsprinzip schützt das Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft und die kleineren Gemeinschaften in ihrem Verhältnis zur Gesamtgesellschaft. Es bedeutet bestmögliche Mobilisierung aller Kräfte für die Integration des Gemeinwohls.“

Es gibt heute manche, die glauben, daß Österreich zu klein sei, um als Bundesstaat bestehen zu können. Es bestehen Zweifel, ob ein relativ kleiner Staat nicht unitarisch organisiert sein müsse. Aber gerade der Kleinstaat muß seinem Wesen nach an der bundesstaatlichen Gliederung und am Föderalismus festhalten, weil er die Freiheit braucht. Die Freiheit ist seine Stärke, sie wird aber geschöpft aus den Grundsätzen des Föderalismus und der Subsidiarität. Diese Freiheit wiegt die äußere Größe und die militärische Macht des Großstaates auf, der in seiner Uniformität dazu neigt, das Individuum aufzusaugen und es in das Kollektiv einzugliedern.

Vor fast 60 Jahren ist aus den Wahlen, welche die provisorische Nationalversammlung ausgeschrieben hatte, die konstituierende Nationalversammlung hervorgegangen. Die provisorische und die konstituierende Nationalversammlung waren sich bewußt, daß geschichtlich und rechtlich selbständige Gebietskörperschaften vorhanden waren, die sich zu einem Bund zusammenschlössen und diesem Bund auf dem Gebiete der Gesetzgebung und Vollziehung Aufgaben übertrugen. Aus den Berichten des Verfassungsausschusses von 1919 und 1920 geht hervor, daß in den verschiedentlich abweichenden Verfassungsvorlagen der Parteien hinsichtlich der Forderung nach bundesstaatlicher Organisation Ubereinstimmung geherrscht hat. Für diese bundesstaatliche Organisation haben die Unterschiede in den örtlichen Gegebenheiten der Landschaft und der Menschen sowie der Verschiedenheiten in der geschichtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung gesprochen. Diese Unterschiede haben danach verlangt, dem Bund nur jene Angelegenheiten zu übertragen, die notwendiger- und zweckmäßigerweise zentral gestaltet werden müssen.

So ist der Inhalt des Artikels 15 des Bundes-Verfassungsgesetzes die konsequente Folge dieser Erkenntnis. Er besagt: „Soweit eine Angelegenheit nicht ausdrücklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder der Vollziehung des Bundes übertragen ist, verbleibt sie im selbständigen Wirkungsbereich der Länder.“ Professor Adamovich meint freilich in seiner Abhandlung „Die Zukunft des Föderalismus in Österreich“ sehr richtig, daß die Deklaration Österreichs als Bundesstaat im ,Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, daß der österreichische Bundesstaat von Anfang an auffallend starke zentralistische Züge aufweise, die sich im Laufe der Zeit noch deutlich verstärkt hätten. Immerhin verwirkliche die österreichischen Bundesverfassung jene Merkmale, die in der Staatslehre gemeiniglich, als für einen Bundesstaat wesentlich angesehen werden. Es gibt eine Kompetenzverteilung in Gesetzgebung und Vollziehung zwischen Bund und Ländern, und es wirken die Länder durch ein eigenes Organ — den Bundesrat — an der Gesetzgebung des Bundes mit.

Die Kompetenzverteilung verlegt aber das Schwergewicht zum Bund, und der Bereich der Gerichtsbarkeit ist überhaupt dem Bund vorbehalten. Und die Befugnisse des Bundesrates sind, so meint Adamovich, verglichen mit denen der Länderkammern in anderen Bundesstaaten, geradezu katastrophal gering. Dazu komme noch, daß die Bundesverfassung in einem atypischen Ausmaß organisatorische Bestimmungen für die Länder enthält und daß den einzelnen Landesverfassungen echte Eigenständigkeit fehlt.

Wenn es um große Entscheidungen geht, hat der Bundesstaat immer wieder alle aufbauenden Kräfte hinter sich. Es darf festgehalten werden, daß die Bundesländer in der Zeit der Not immer zum Bund gehalten haben. Den Staat hält nicht Gewalt oder die Vorherrschaft eines Landes zusammen, sondern die Achtung und Anerkennung der Rechte jener Gebiete, deren Wesen unantastbar bleibt.

Der Nationalsozialismus hat nach der Annexion Österreichs 1938 ganz bewußt die Zerstückelung der geschichtlich gewachsenen Länder durchgeführt. Nach wenigen Jahren zeigte es sich aber, daß die Bundesländer sehr starke, unzerstörbare Gebilde waren, die sofort wieder auflebten, als die Gewalt aufhörte. Das Burgenland entstand wieder, Osttirol löste sich wieder von Kärnten, Vorarlberg erklärte sich neuerdings als selbständiges Land und gliederte sich das Kleine Walsertal wieder an. Das Ausseer Land kehrte zu seiner alten Heimat zurück. Wien hat die Randgemeinden wieder an Niederösterreich abgetreten. Auch Oberösterreich hat die Einheit seines Landes wieder hergestellt.

Die Bundesländer sollten sich noch mehr als bisher bemühen, einander

zu verstehen: Ihr geschichtliches Werden, ihr Volkstum, ihre Mentalität, ihre Kultur, ihre Wirtschaftsstruktur. Der Bund sollte sich öfter auf Wesen und Werden der Länder besinnen. Er sollte manchmal daran denken, daß die Länder vor dem Gesamtstaat bestanden, daß sie geschichtlich, stammesmäßig, kulturell gewachsene Gebilde sind. Vielleicht wäre, wenn man immer an diese Umstände gedacht hätte, manche Kompetenzverlagerung, die im Wege von verfassungsändernden Bestimmungen in einfachen Gesetzen in den letzten 20 Jahren erfolgte, unterblieben. Es sind allein seit 1945 mehr als 100 Kompetenzverschiebungen zu Lasten der Länder erfolgt, wenn auch manche nur vorübergehend. Es gibt namhafte Staatsrechtslehrer, die Österreich deshalb nicht mehr als einen Bundesstaat bezeichnen, während andere von einer „schleichenden Totaländerung“ der Bundesverfassung im Hinblick auf das bundesstaatliche Prinzip sprechen. Mit Recht wird in der einschlägigen Literatur die Frage gestellt, ob nicht die Änderungen der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ein Ausmaß erreicht haben, das die Anwendung des Art 44 Abs. 2 B-VG verlangte. Dieser Artikel sieht vor, daß jede Gesamtänderung der Bundesverfassung an das Erfordernis einer . Volksabstimmung gebunden ist. Die Grenze des Zulässigen ist aber sehr schwer zu ziehen.

Unter der Bezeichnung „Forderungsprogramm der Bundesländer“ legten Länder und Gemeinden eine gemeinsame Wunschliste vor. Dieses Programm wurde — allerdings nur in Teilen — 1968 nach langwierigen Beratungen zwischen Bund und Ländern in der Regierungsvorlage einer Novelle zur Bundesverfassung berücksichtigt, die aber vom Nationalrat in der Folge nicht erledigt worden ist. Die Länder haben daher im Oktober 1970 der Bundesregierung ein ergänztes Forderungsprogramm vorgelegt, das vor allem auf dem Gebiete der Finanzverfassung und des Finanzausgleiches neue Wünsche enthielt. Dieses bildete Anfang 1972 die Grundlage einer neuerlichen Regierungsvorlage, die vor einiger Zeit eine positive Erledigung gefunden hat. Leider sind die finanziellen Forderungen in der Regierungsvorlage ausgeklammert worden. Der Schwerpunkt des Forderungsprogramms zielt auf eine Erweiterung des Anteiles der Länder an der Kompetenzverteilung, auf den Abbau von Sonderrechten des Bundes als Träger von Privatrechten und auf die Stärkung der Position der mittelbaren Bundesverwaltung ab.

Für die beklagenswerte Entwicklung des Föderalismus in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten ist wesentlich der Umstand bestimmend, daß die zweite gesetzgebende Körperschaft des Bundes, der Bundesrat, nicht jene verfassungsrechtliche Stellung hat, die einer echten Länderkammer zukommen müßte. Zunächst muß gesagt werden, daß die Gliederung des Bundesrates in Parteifraktionen unglücklich ist. Er behandelt auf Grund dieser Gliederung die Gesetzesvorlagen unter denselben Aspekten, wie dies für den Nationalrat gilt. Der Bundesrat sollte eine Zusammensetzung aufweisen, die Gewähr bietet, daß nicht die politischen, sondern die Länderinteressen im Vordergrund stehen. Es wäre die Bildung von Länderfraktionen richtig, in denen profilierte L8n-dervertreter Sitz und Stimme haben sollten. Ich denke etwa an die Lan-desfinanzreferenten.

Die Demokratie beruht auf dem Grundsatz der Gleichheit. Das Prinzip der Gleichheit gilt in Österreich im Gegensatz zu anderen Bundesstaaten der freien Welt, wie der Schweiz, weitgehend der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika, für die Gliedstaaten nicht. Das Prinzip der Gleichheit verlangt, daß alle Gliedstaaten, unbeschadet ihrer Größe oder Bevölkerungszahl, die gleiche Zahl von Mitgliedern in die Länderkammern entsenden. In den 43 Gliedstaaten Nordamerikas steht New York mit 18,3 Millionen Einwohnern dem kleinsten Gliedstaat Nevada mit nur etwa 454.000 Einwohnern gegenüber. Beide entsenden in den Senat, der unserem Bundesrat entspricht, die gleiche Zahl von Senatoren. Ähnliches gilt für die Schweiz. Der Kanton Uri mit 33.000 Einwohnern entsendet genauso zwei Mitglieder in den Ständerat wie der bevölkerungsreichste Kanton Bern mit 984.000 Einwohnern. Bei uns entsendet Wien zwölf Mitglieder in den Bundesrat; die kleinen Bundesländer, wie Burgenland, Salzburg oder Vorarlberg, nur je drei. Wien wiegt also als Bundesland viermal so viel wie die kleinen Bundesländer.

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