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Opfer auf dem Asphalt

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Die Liberale Partei Großbritanniens, dieses höchst anfällige, .nüh-sam am Leben erhaltene Gewächs aus einer so ganz anderen politischen Ära, sieht sich jetzt „Witterungsunbilden“ ausgesetzt, die dem gerade vor einiger Zeit wieder ein wenig aufgeblühten Pflänzchen endgültig den Garaus machen könnten — oder doch wenigstens auf recht lange Zeit. Jeremy Thorpe, Parteiführer seit Jänner 1967, sah sich jetzt unter dem Druck fortgesetzter dubioser Angriffe gezwungen, dieses Amt niederzulegen, und inzwischen ist auch die unter den Umständen einzig noch tragbar erscheinende Lösung fehlgeschlagen. Joe Grimond, liberaler Parteiführer von 1956 bis 1967 und mit Abstand der beste politische Denker seiner Partei, hielt sich mit 62 Jahren für zu alt, um seine geschwächte und unsicher gewordene Partei noch einmal in einen Wahlkampf zu führen; obwohl zehn der zwölf liberalen Unteihausabgeordne-ten ihm die kampflose Übernahme der Parteiführung anboten, erklärte sich Grimond lediglich dazu bereit — und auch das erst nach langem Zögern —, die Führungsgeschäfte vertretungsweise bis zum kommenden Juli zu übernehmen, in welcher Zeit der Parteiausschuß ein neues System zur Wahl des Parteichefs ausgearbeitet haben wird.

Reaktionen aus Presse und Öffentlichkeit in ganz Großbritannien lassen deutlich erkennen, auf wieviel Mitgefühl die persönliche Tragödie Jeremy Thorpes in nahezu allen Teilen des politischen Spektrums gestoßen ist. Dieser geistreiche, fein-gebildete — Eton und Oxford — Politiker und ausgezeichnete Redner hatte immerhin seine Partei vom Aussterbeetat der sechziger Jahre zu dem für die Liberalen triumphalen Wahlergebnis vom Februar 1974 geführt, mit 6 Millionen liberalen Wählern und immerhin 14 Unterhaussit-zen. Seinen eigenen Sitz im Wahlkreis von Nord-Devon, bisher stets nur knapp mit wenigen hundert Stimmen Mehrheit gehalten, konnte er diesmal mit einer Erdrutsch-Mehrheit von über 11.000 Wählerstimmen wiedergewinnen. Und all das war durchaus nicht nur das Resultat einer von Tory- und Labourslogans gleichermaßen überfütterten Wählerschaft, sondern der Ausdruck eines echten Wunsches nach einer frischen, dritten Kraft im Lande, glaubhaft gemacht und verkörpert durch die geradlinige, überzeugende Persönlichkeit Jeremy Thorpes, der gerade in diesen Monaten der aufgepeitschten Konfrontationspolitik die ruhige Stimme des gesunden Menschenverstandes ertönen ließ.

Aber neben seinen vielen hervorragenden Eigenschaften verfügt Jeremy Thorpe doch über eines überhaupt nicht. Wenn man Napoleon einen fähigen Offizier zur Beförderung vorschlug, so soll der Kaiser stets gefragt haben: „Hat er Glück?“ Jeremy hätte in der napoleonischen Armee nie Karriere gemacht, denn dieses für das größte Talent so wichtige Requisit geht ihm völlig ab. Schon nach den Februarwahlen von 1974, seinem größten politischen Triumph, wurde ihm ein noch größerer versagt, nämlich die Teilnahme an einer Koalitionsregierung mit den Tories, was für Thorpe selbst wahrscheinlich das Amt des Innenministers bedeutet hätte. Er war sich jedoch klar darüber, daß ein Eingehen auf dieses Angebot eine unheilbare Spaltung seiner Liberalen Partei ausgelöst hätte, weshalb er als Ehrenmann dieser großen Versuchung widerstand. Aber viele der sechs Millionen liberalen Wähler vom Februar 1974, die einen politischen Klimawechsel um jeden Preis angestrebt hatten, nahmen Thorpe dieses Verhalten übel, sie verwechselten politische Integrität mit Un-entschlossenheit, und schon bei den Oktoberwahlen erhielten die Liberalen die Quittung: sie wurden wieder einmal überrannt, und Jeremy Thorpe verlor in seinem eigenen Wahlkreis die Hälfte seines früheren Vorsprungs.

Die jetzige Affäre Scott versetzte schließlich der politischen Laufbahn Thorpes“ den Todesstoß — wenigstens vorläufig. Die öffentlich aufgestellten Behauptungen eines recht suspekten Charakters, des männlichen Mannequins Norman Scott, vor 15 oder 20 Jahren homosexuelle Beziehungen mit Thorpe gehabt zu haben, sind von diesem mehrfach zurückgewiesen worden, doch ließ ein Teil der britischen Asphaltpresse einfach nicht zu, daß diese üble Geschichte in die auf alle Fälle wohlverdiente Versenkung verschwand. Jeremy Thorpe, schließlich auch von einigen seiner liberalen Parlamentskollegen angegriffen, erkannte schließlich, daß „kein Mann eine Partei führen kann, wenn er einen Großteil seiner Zeit darauf verwenden muß, sich mit persönlichen Anschuldigungen und Intrigen herumzuschlagen“; und mit seinem Rücktritt hat er einmal mehr seine Partei über seine Interessen gestellt.

So werden sich also im Juli die hoffnungsvollen jungen Männer unter den liberalen Parlamentariern um den nicht übermäßig beneidenswerten Posten des liberalen Parteiführers bewerben; an erster Stelle liegen da David Steel, 38, aus Schottland, im Rennen, trotz seiner Jugend vielleicht der besonnenste und geschickteste Realpolitiker der Liberalen neben Grimond und Thorpe — und John Pardoe, 41, Abgeordneter für Cornwall und profunder Wirtschaftsfachmann seiner Partei. Der neue Parteiführer hat jedenfalls einen langen, dornigen Weg vor sich, wenn er aus den Liberalen wirklich wieder eine echte dritte Kraft in Großbritannien machen will.

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