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„Opfer" der Gorbimanie

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Die Völker Europas stellen die Weichen ins 21 .Jahrhundert: Mehr Freiheit soll zu wirtschaftlicher Kooperation führen. Werden die Mächtigen eine Politik des Volkes betreiben?

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Die Völker Europas stellen die Weichen ins 21 .Jahrhundert: Mehr Freiheit soll zu wirtschaftlicher Kooperation führen. Werden die Mächtigen eine Politik des Volkes betreiben?

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Werden die Völker Europas ihr Schicksal im 21. Jahrhundert selbst bestimmen können? Alles deutet darauf hin, daß viele - zum Teil noch unfreie - Völker des Alten Kontinents gewillt sind, gegen die Köpfe der Mächtigen vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen. Das gilt für die baltischen Republiken ebenso wie für Armenien, Georgien, die Ukraine, die sowjetischen Satellitenländer und - die beiden deutschen Staaten.

Die Welt hat anläßlich des Besuches Michail Gorbatschows in der Bundesrepublik Deutschland erlebt, wie mächtig der Volkswille sein kann. Kommentatorenstimmen, man habe es dabei ja bloß mit einem hysterischen Ausbruch, einer Krankheit gewissermaßen, bestenfalls mit einem Gorbasmus, von dem außer einem kurzen Höhepunkt keine langanhaltende Zufriedenheit bestehen bleibt, zu tun, man könne die Wünsche eines Volkes, des deutschen, getrost den Psychiatern überlassen, erkennen zwar die Irrationalität mancher Polit-Wünsche, verkennen aber den Realitätsgehalt der Zukunftshoffnungen.

Die Deutschen sind genausowenig „gaga geworden“ - wie dies die „Washington Post“ zu beobachten vermeint - wie sie zum „Alptraum für Westeuropa“ werden können (so der frühere Chefredakteur der „New York Times“ A.MJtosenthal in ei- nemKommentar), bloß weileinAus- gleich mit der Sowjetunion gesucht wird.

Vierzig Jahre nach Gründung der beiden deutschen Staaten werden jetzt die Polit-Floäkeln von Wieder vereinigung, Selbstbestimmung, Demokratisierung und westliche Wertegemeinschaft auf ihren Wahrheitsgehalt abgeklopft - von den betroffenen Völkern selbst, die Antworten von ihren Politikern verlangen.

Europa braucht jetzt Visionen, die die Völker bewegen und die tatkräftige Politpersönlichkeiten umzusetzen willens sind. Der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow gilt als eine solche Persönlichkeit. Das haben die Beifallsbekundungen in der Bundesrepublik deutlich gezeigt. Dieser Applaus galt nicht dem Kommunistenführer. Gemeint war der politi sche Neudenker und Reformer. Die Bundesrepublik Deutschland befand sich in den Tagen des Gorbatschow-Besuches nicht jenseits des Eisernen Vorhanges - wie ein blödsinniger Kommentar im „Le Fari- sien“ wähnte -, die Deutschen stehen nach wie vor in der westlichen Wertegemeinschaft (um dies zu erkennen, braucht man keine Treuebekundungen aus dem Munde Bundeskanzler Helmut Kohlst). Nun sehen die Deutschen die Stunde gekommen, die Verteidigung dieser Wertegemeinschaft mit bloß militärischen Mitteln aufzugeben und zu einer qualitativ neuen Sicherheitspolitik zu kommen - und zwar über eine starke wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Man mag die gemeinsame - sogenannte „Bonner“ - Erklärung von Gorbatschow und Kohl, in der ausdrücklich vom „Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souveränzu gestalten“, interpretieren wie man will - sogar der Standpunkt der Kommunisten in der Deutschen Demokratischen Republik wird sich mit dieser diplomatischen Formel irgendwie untermauern lassen -, was bleibt, ist doch der Wille der Völker, der über die gegenwärtige Rationalität und Logik konkreter Ost-West- und Europa-Politik weit hinausgeht.

Was sich vergangenen Donnerstag und Freitag in Budapest anläßlich des Begräbnisses von Imre Nagy und Gefährten - der „Märtyrer und Helden von 1956“(FURCHE 24/ 1989) - abspielte, war ein Votum des Volkes gegen den Kommunismus, gegen 40 Jahre ostmitteleuropäischer Abkoppelung von der Moderne. Wurde in der Bundesrepublik das Neue - verkörpert in Gorbatschow - überschwenglich begrüßt, gestaltete sich in Budapest die antikommunistische Kundgebung zu einer Art meditativer Demonstration. Da wie dort hat das Volk eine Aussage über seine Befindlichkeit gemacht, da wie dort waren keine Spinner am Werk, deren Tun von Realitätsfeme gekennzeichnet gewesen wäre. Da wie dort packten nicht in erster Linie politische Programme und Parolen, sondern die tiefen Eindrücke einer Zeitenwende zum Besseren.

Europa ist unterwegs zur postkommunistischen Ara. Dies könnte - zu hoffen ist es jedenfalls - ohne revolutionäres Aufbegehren, das alles hinwegfegt, geschehen. In Europ a hat ein neuer Evolutionsabschnitt begonnen, hoffentlich auch abseits jedes billigen Reformismus. Die Deutschen, die Europäer, die mit Gorbatschows Sowjetunion den Ausgleich suchen, sind keine Opfer der Gorbimanie. Europa will niemandes Opfer mehr sein.

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