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Opferlamm und Hirtenwacht
Auch in Frankreich spiegelt die äußerlich veränderte Gestalt des Weihnachtsfestes die Prägung durch Industrialisierung, Urbanisierung und Kommerz wider. Die Leitbilder stammen aus der angloamerikanischen Zivilisation, wenngleich Brauchelemente wie Weihnachtsbaum und Weihnachtsmann kontinentaleuropäischen Ursprungs sind und nach zweimaliger Uberquerung des Atlantiks dem Nachkriegsfrankreich sozusagen aus zweiter Hand vermittelt worden sind.
Welche altüberlieferten und einheimischen Ausdrucksformen der französischen Weihnacht werden von dieser Folie moderner Festgestaltung mit ihren Merkmalen der Allgemeingültigkeit und der Einheitlichkeit überdeckt? Die Gestaltungen des Weihnachtsfestes in seiner volkstümlichen Prägung sind aus den verschiedensten Wurzeln hervorgegangen. Das alte Mittwinterfest, die Ansetzung des Jahreswechsels, das Freihalten der Rauhnächte, der „Douze Jours" zwischen Weihnachten und Dreikönig, das waren die Hauptanlässe zu den einzelnen Formen des Volksbrauches.
Antikes und christliches Erbe tritt zutage in den volkssprachlichen Benen nungen des Weihnachtsfestes im Französischen. Die Erinnerung an einen alten Jahresanfang lebt in den Bezeichnungen weiter, welche von lateinisch „Calendas" abgeleitet worden sind. Aber der christliche Sinn des Weihnachtsfestes und die kalendermäßige Festlegung der Geburt Christi auf den 25. Dezember im 4. Jahrhundert spiegelt sich in den Namen „Nadal", „Na-dau" (Languedoc, Gascogne) und „NoeT* (ganz Nord- und Ostfrahk-reich), die auf kirchenlateinisch „na-talis (dies)" zurückzuführen sind.
Aus rein christlicher Tradition hervorgegangen ist der volksfromme Brauch der „pastrages", die Darbringung eines Lammes in der Kirche während der Christmette durch die Hirten in den Dörfern Südfrankreichs und im katalanischen Teil der Pyrenäen. Der Ursprung liegt wohl im Spätmittelalter, im spielhaften Nachvollzug der biblischen Geschichtevon der Verkündigung der Geburt Christi durch den Engel auf dem Hirtenfeld und vom Gang der Hirten zum Stall von Betlehem. Die zeitgenössische Bildkunst hat diese Weihnachtsszene immer wieder liebevoll gestaltet, und das Liedgut der alt-provenzalischen „pastorela" und der französischen „noels", wie es im weihnachtlichen Volkslied bis heute nachlebt, pflegt dieselbe Andacht.
In Frejus und Manosque in manchen Orten in der Umgebung von Arles und von Marseille halten auch in unseren Tagen „Hirten" Wacht auf dem nächtlichen Feld. Ein Engel in Gestalt eines weißgekleideten Mädchen erscheint ihnen im Scheinwerferlicht und weist dem Anführer der Hirten, den „baue pastre", den Weg zur Krippe in der heimatlichen Pfarrkirche. Der Hirtenführer trägt in seinem Arm ein Lamm, provenzalische Trommeln und Pfeifen begleiten ihn, und in seinem Gefolge befinden sich auch Kinder, Mädchen und Buben, in fürsorglich bewahrter Landestracht. Zum Offertorium der Christmette bringen die Hirten dem Jesuskind in der Kirchenkrippe das lebende Lamm dar. Die Kinder breiten vor dem Altar die Früchte des Feldes und die Speisen aus Küche und Keller als Gaben auf.
In Marseille, in der Kirche Saint-Laurent, sind es die Fischer dieser großen Hafenstadt, die einen Teil des letzten Fischfangs zur Krippe tragen. Der volksfromme Brauch der „pastrage" war einst weitverbreitet in der Provence, im Comtat Venaissin und in Katalonien. Die Bezeugungen mehren sich im 16. Jahrhundert. Mit dem Rückgang der Religion und ihren volkstümlichen Ausdruckformen in der Folge der Aufklärung und der Französischen Revolution ist dieser volksliturgische Brauch in Südfrankreich im 19. Jahrhundert jedoch zur Gänze verlorengegangen.
Die Weihnachtskrippe in der Kirche findet ihren Widerhall in der häuslichen, figurenkleinen Nachbildung der Geburtsszene, jn der „creche". Die Volkskunst hat hierbei wahre Wunderwerke hervorgebracht; und dies nicht nur in der Provence, wo die fingerhohen Figürchen der Heiligen Familie, der Heiligen Drei Könige, der Hirten und ungezählter Volkstypen aus gebranntem und kaltbemaltem Ton, die bezaubernden „santons", Jahr für Jahr auf dem weithin bekannten Weihnachtsmarkt von Marseille stets ihre begeisterten Käufer und Sammler finden.
Nur noch in kulinarischen Nachklängen lebt die Erinnerung an den alten Brauch des Weihnachtsklotzes, der
„buche de NoeT', auch „tison, tronc, cep de NoeT* genannt, weiter. Der deliziöse Baumkuchen als weihnachtliches Festgebäck hat das mächtige Stück eines tatsächlichen Lammes abgelöst, einst in der Heiligen Nacht im bäuerlichen Kaminfeuer angezündet und von der Hausfrau gesegnet wurde. Man trachtete danach, die Glut bis Dreikönig zu bewahren. Mit dem einst über weite Teile Europas verbreiteten Jahresfeuerbrauch waren mannigfache Vorstellungen des Volksglaubens verknüpft. Das Holz des Weihnachtsklotzes soll von einem Obstbaum sein, damit dieser im kommenden Jahr viele Früchte trägt.
Gesegnetes Grün wie die Natur es in der immergrünen Tanne spendet, begegnet einem auch in der jüngeren französischen Volksüberlieferung im Weihnachtsbaum. Seine Geschichte in Mitteleuropa beginnt mit einer Schilderung aus dem Elsaß des Jahres 1605. Nach Frankreich soll der Christbaum aufgrund eines häufig zitierten Berichtes von der deutschen Prinzessin Helene von Mecklenburg übertragen worden sein, als sie nach ihrer Verehelichung mit dem Duc d'Orleans erstmals zu Weihnachten 1837 im Palais des Tuile-ries einen Lichterbaum aufstellen ließ. Andere Quellen führen an, daß ein erster „arbre de NoeT* 1738 am Hof von Ludwigs XV. ins Schloß Versailles von der Polin Marie Lesczynska gebracht worden ist. Für die Verbreitung des Christbaumes in bürgerlichen Kreisen und im Volk aber ist das Jahr 1871 ausschlaggebend geworden, als infolge der Annexion Elsaß-Lothringens durch das Deutsche Reich patriotische Kreise und nationale Vereinigungen das Weihnachtssymbol aus den abgetrennten französischen Ostprovinzen zum Zeichen der politischen Revanche erhoben.
Weihnachten als „Schwellentermin" zwischen altem und neuem Jahr ist auch in Frankreich die Zeit der weitverbreiteten Heischeumzüge der Kinder, die für ihre Glück- und Segenswünsche brauchtümlichen Lohn erhalten. Nur im Elsaß, in Lothringen und in der Freigrafschaft, in altem Reichsland also, kommen in den Gestalten des Hl. Nikolaus, des Christkindes und der Tante Arie weihnachtliche Gabenbringer vor. Lediglich aus der französischen Schweiz greift das Verbreitungsgebiet des „P6re Chalande" nach Savoyen über, als dessen modernen Partner wir in Frankreich den „Pere Noel" in seiner weltläufigen Adjustierung ansehen dürfen. Die Weihnachtsbescherung der Kinder durch ihn ist ein in Frankreich sehr junger Brauch, der sich von der Metropole Paris rasch über die Städte und Dörfer ausgebreitet hat.
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