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Optik mit Schrammen

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Das mehrjährige verbissene Ringen um ein Bundesgesetz, das den Arbeitnehmern in Großbetrieben die Mitbestimmung bescheren soll, neigt sich dem Ende zu. Die Regierungsparteien, SPD und FDP, haben unter Aufgebot letzter Kräfte einen Kompromiß ausgebrütet, über den innerhalb der Koalition vor allem die SPD keineswegs glücklich ist, den man nun aber bis zur Selbstverleugnung als einen Beweis für die Haltbarkeit des Regierungsbündnisses anbieten muß. Denn bis zur Bundestagswahl sind es nur noch zehn Monate. Und wenn die Sozialdemokraten weiterregieren wollen, brauchen sie den Konsens der Liberalen. Ohne die FDP geht nichts mehr.

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Das mehrjährige verbissene Ringen um ein Bundesgesetz, das den Arbeitnehmern in Großbetrieben die Mitbestimmung bescheren soll, neigt sich dem Ende zu. Die Regierungsparteien, SPD und FDP, haben unter Aufgebot letzter Kräfte einen Kompromiß ausgebrütet, über den innerhalb der Koalition vor allem die SPD keineswegs glücklich ist, den man nun aber bis zur Selbstverleugnung als einen Beweis für die Haltbarkeit des Regierungsbündnisses anbieten muß. Denn bis zur Bundestagswahl sind es nur noch zehn Monate. Und wenn die Sozialdemokraten weiterregieren wollen, brauchen sie den Konsens der Liberalen. Ohne die FDP geht nichts mehr.

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Was indes nach der von den beiden Propagandazentralen künstlich erzeugten Einigungseuphorie zurückbleiben muß, ist ein schales Gefühl. Denn wenn Politiker jeder Couleur jene Noblesse als „Zielgruppen-freundlich“ wiederentdecken, bei der es nach Einigungen keine Sieger geben soll, so enthält dieses Vorstellungsbild doch auch, daß sich niemand als Besiegter zu fühlen braucht. Hier hapert es. Angesichts des jetzt beschlossenen Modells sind das SPD-Fußvolk und sogar Teile der Führungsmannschaft über die massiven Zugeständnisse an den kleineren Koalitionspartner empört, den man einerseits bei einem Wahlsieg zum Weiterregieren nach 1976 brauchen würde, der sich aber anderseits unter Ausnutzung dieser Zwangslage jetzt erfolgreich als Schutzpatron der leitenden Angestellten profilieren konnte: einer gesellschaftlich „relevanten“ Gruppe, der die Multiplikatorenfunktion politischer opi-nion leaders zugeschrieben wird.

Aber mit der Konzession des Sonderstatus von leitenden Angestellten, der nach Lesart von SPD-Paritätsverfechtern zu einer Aufspaltung der Arbeitnehmerschaft führt, ist es noch nicht genug. Auch die meisten anderen Begradigungen an dem ursprünglich vor zwei Jahren aufgelegten Regierungsentwurf — der ja auch schon für lupenreine Paritätskämpfer von SPD und DGB einen haarsträubend verwässerten Kompromiß bedeutete — sind Veränderungen im Sinne der Freien Demokraten. Am hervorstechendsten davon ist der klare Vorrang der Eigentümerseite in Konfliktfällen, wie ihn auch die CDU mehrheitlich fordert.

SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, die drohende Katastrophe nach einer in dieser Legislaturperiode ungelösten Mitbestimmungsfrage vor Augen, begründete in einem Akt selbstüberwindender Parteiraison vor den sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten den Kompromiß mit der Notwendigkeit, die befürchtete Ablehnung des Modells durch das Bundesverfassungsgericht unmöglich zu machen. Und in der Tat bietet die halbherzig beschlossene Lösung wenigstens die Gewähr, daß sie das Gesetz gegen die Gefahr einer verfassungsgerichtlichen Anfechtung so weit wie irgend möglich immunisiert; gegen ein Risiko also, das besonders im Hinblick auf die näherrückende Bundestagswahl beiden Regierungsparteien untragbar erscheinen mußte.

Die ausgehandelte Mitbestimmungsregelung soll in allen bundesdeutschen Großbetrieben mit mehr als 2000 Beschäftigten eingeführt werden. Sie gilt nicht für die Montanindustrie, wo bereits eine Mitbestimmungsform besteht und auch nicht für sogenannte „Tendenzunternehmen“, wie etwa Presseverlage. Im Kern sieht der Entwurf der sozialliberalen Koalition zwar eine zahlenmäßig gleich starke Vertretung von Kapital und Arbeitnehmern im Aufsichtsrat vor, und zwar bei Unternehmen bis zu 10.000 Beschäftigten im Verhältnis sechs zu sechs, bis zu 20.000 Beschäftigten im Verhältnis acht zu acht und darüber hinaus im Verhältnis zehn zu zehn. Die. von den Gewerkschaften angestrebte volle Gleichberechtigung von Kapital- und Arbeitnehmervertretern soll es jedoch nicht geben. Können sich nämlich beide Seiten nicht mit Zweidrittelmehrheit auf einen Aufsichtsratsvorsitzenden einigen, wählen ihn die Vertreter der Anteilseigner allein aus ihren Reihen. Die Arbeitnehmer benennen nur seinen Stellvertreter. Der Vorsitzende aber wird bei Stimmengleichheit zur Schlüsselfigur, weil in diesem Fall sein Votum den Ausschlag gibt. Diese Möglichkeit des Stichentscheids gilt auch bei der Bestellung des Vorstands, dem künftig ein „Arbeitsdirketor“ gleichberechtigt angehören soll. Damit kann die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzen-den ausschlaggebend dafür sein, wer im Vorstand für Sozial- und Personalfragen zuständig sein soll.

Unter den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat müssen immer ein leitender Angestellter und mindestens zwei Kandidaten der Gewerkschaften sein; von letzteren bei Unternehmen mit mehr als 20.000 Beschäftigten sogar deren drei. Gewählt werden diese Gewerkschaftsrepräsentanten von der gesamten Belegschaft. Demgegenüber wählen Arbeiter und Angestellte ihre Aufsichtsratsmitglieder separat. An der Wahl der Angestelltenvertreter nehmen auch die leitenden Angestellten teil. Letztere nominieren zuvor zwei Kandidaten, von denen einer gewählt werden muß. Mit dieser von der FDP gegen zunächst heftigen SPD-Widerstand durchgesetzten Regelung werden die leitenden Angestellten, die nach vielfacher Definition „Arbeitgeberfunktionen“ wahrnehmen,nun faktisch auf der Arbeitnehmerseite angesiedelt. Das aber schmeckt den Gewerkschaften ebensowenig wie der Stichentscheid des Aufsichtsratsvorsitzenden, den ja bei einem Wahl-Patt die Anteilseigner benennen dürfen. Zumindest hinsichtlich des Zieles einer von ihm gemeinten „vollen“ Parität sieht der DGB seine Felle vorerst davonschwimmen.

Die Empörung des DGB als völlig selbstlos und im ausschließlichen Interesse der Arbeitnehmer zu verstehen, fällt freilich schwer, wenn man den Blick auf die Mitbestimmung in gewerkschaftseigenen Großbetrieben richtet. In sämtlichen Aufsichtsräten der gewerkschaftlichen Unternehmen nämlich sind die Anteilseigner,die Gewerkschaften also, in der Mehrheit.

Eine große parlamentarische Mehrheit für das von der Regierungskoalition vorgelegte Mitbestimmungsmodell ist so gut wie gesichert. Denn für viele überraschend,folgte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fast einstimmig einer Empfehlung ihrer inzwischen vorgestellten „Führungsmannschaft“, dem Kompromiß zuzustimmen. Die Christdemokraten, die sich gegen die früheren von SPD und FDP vorgelegten Mitbestimmungspläne jahrelang gesperrt hatten, wollen sich nun freilich nicht etwa einen Sinneswandel oder gar ein wahltaktisches „Trittbrettfahren“ auf dem abrollenden Mitbestimmungszug unterstellen lassen. Wie es scheint, gelingt es der Opposition, ihre Haltung mit mehr Fortune in den Medien darzustellen. Was SPD und FDP gegenüber ursprünglichen Plänen nun der Öffentlichkeit als das von ihnen ertüftelte Mitbestimmungsmodell anpreisen, reklamieren die Unionsparteien zumindest in den Umrissen als jenen Kurs, den die CDU schon 1973 auf ihrem Hamburger Bundesparteitag beschlossen hat. Es läßt sich denn auch kaum leugnen, daß die neue SPD/FDP-Gesetzesvorlage, in klarer, Kehrtwendung gegenüber bisherigen Zielen, nun jene Art der Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit in Großbetrieben berücksichtigt, die sich — zumindest auch nach Oppositionsvorstellungen — am Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft orientiert.

Ihr endgültiges Plazet nach dem jahrelangen Tauziehen hat die CDU zwar noch nicht gesprochen; denn trotz ihres grundsätzlichen Ja und entgegen Mischnicks „Bis hieher und nicht weiter“, will die Opposition das Gesetz durch eine Reihe von Detailmodifizierungen noch mit eigener Handschrift versehen.

Wenn man nüchtern von dem ursprünglichen Entwurf der 3PD-/ FDP-Koalition ausgeht, ist der jetzt erstrittene Kompromiß ein Schritt in Richtung auf marktwirtschaftliche Vernunft. Aus der Sicht der Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie ist er indes so unzureichend, daß, wie sie meinen, damit die Gefahr für die marktwirtschaftliche Funktionsfähigkeit der Unternehmen keineswegs gebannt ist. Im Gegenteil. Die Privatwirtschaft argwöhnt sogar, der von der Koalition ausgehandelte Mitbestimmungskompromiß stelle die Weichen für einen Gewerkschaftsstaat. In der Tat ist die Steigerung des gewerkschaftlichen Einflusses in allen Großunternehmen unverkennbar. Entgegen den DGB-Unmutsbekundungen haben sich die Machtverhältnisse zu Ungunsten der Unternehmer und zugunsten der Gewerkschaftsfunktionäre verschoben. Und da Wirtschaftsformen sich bekanntlich nicht von Politik trennen lassen, wird denn auch im Unionslager schon mancherorts die Sorge laut, das Ja der Führung zu einem Modell, das mehr als 600 neue, gewerkschaftsnahe „Arbeitsdirektoren“ in den Großbetrieben und mindestens

1500 betriebsfremde, von der Gewerkschaftsführung zentral ferngelenkte Aufsichtsräte vorsieht, könnte mittelfristig nicht nur wirtschafts-sondern auch staatspolitische Bedeutung erlangen.

Der Kompromiß zwischen SPD und FDP verdeutlicht mit seltener Klarheit den verzweifelten Kampf der Sozialdemokraten um eine Fortsetzung des Regierungsbündnisses, für die sie nahezu jeden Preis zu zahlen bereit sind. Von beiden Seiten war die Mitbestimmung zu einem

Testfall für die Einigungsfähigkeit der Koalition hochstilisiert worden und ein Scheitern der Verhandlungen hätte den weithin sichtbaren Anfang vom Ende der Allianz bedeutet. Insofern reicht der taktische Rückzug der SPD, der mit allen Mitteln den vielzitierten „Vorrat an Gemeinsamkeiten“ suggerieren soll, in seinem politischen Tiefgang weit über das Thema' der Mitbestimmung hinaus. Er müßte in Wahrheit — sollte sich im Oktober der von der SPD erhoffte Wahlsieg einstellen — als erste Kursnotierung im Feilschen um Konzessionen und Gegenleistung innerhalb einer sozialistisch korrigierten Neuauflage der Koalition gewertet werden. Zins und Zinseszinsen für ihre Vorgaben würde die SPD schon unter dem Druck ihrer eigenen, zunehmend mächtiger werdenden Linken bei den nützlichen Steigbügelhaltern mit unerbittlicher Härte einklagen.

War es nicht um 1930, daß sich die Welt über den ins Meer geschütteten brasilianischen Kaffee ereiferte? Die Welt war damals nicht hungriger als heute. Nur jene, die derlei Dinge, was ja die Voraussetzung dafür ist, daß man sich darüber ereifern kann, erfahren — die sind heute satt. Und nehmen daher die Vernichtung von 100.000 Tonnen europäischer Äpfel in den letzten Wochen achselzuckend hin.

Die 100.000 Tonnen Äpfel der Sorte „Golden Delicious“, die in den letzten Wochen auf Deponien Südfrankreichs und Italiens verfaulten, sind nur ein Auftakt. Denn alle Hoffnungen der EWG-Behörden, Verwendung für die überschüssigen Äpfel einer überdurchschnittlichen Ernte zu finden, schlugen fehL Der holländische Landwirtschaftsminister etwa, der Gratisäpfel mit Armeelastwagen in die Schulen führen ließ, erlitt Schiffbruch: Die Lehrer verweigerten jegliche unbezahlte Verteilungsarbeit, und die Armee verlangt nun nachträglich Fuhrlohn.

Europas Apfelernte entspricht heuer ziemlich genau Europas Apfelbedarf. Aber leider, die großen Apfelexporteure Australien, Argentinien und Uruguay sind schon über die Rindfleischsperre der EWG genügend erbost. Nun auch noch die eigenen Äpfel ins Meer zu schütten, ist ihnen zuviel.

So zahlt denn die EWG S 1,50 bis S 1,80 pro Kilo vernichteter Äpfel. Der Verbraucher allerdings zahlt etwa in der BRD noch immer S 12.60 pro Kilo. Vielleicht würde er mehr Äpfel essen — wenn die Äpfel billiger wären. Vom teuren, importgesperrten Rindfleisch ganz zu schweigen.

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