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Ordentlicher Mittelpunkt

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Verglichen mit dem Entwurf für ein neues Meldegesetz war die Jurisdiktionsnorm vom 1. August 1895 geradezu fortschrittlich: Sie ging jedenfalls - bei weit geringerer Mobilität -grundsätzlich davon aus, daß eine Person mehrere ordentliche Wohnsitze haben kann. Hundert Jahre später soll ein Bürger aber nur mehr einen Hauptwohnsitz haben dürfen. Und zwar soll das jener sein, def Mittelpunkt der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen ist.

Eine vergleichbare Krampflösung hat ja schon beim Volkszählungsgesetz Schwierigkeiten bereitet. Denn aus den unbestimmten Begriffen lassen sich keinesfalls eindeutige Zuordnungen ableiten. Was hat mehr Gewicht, was weniger?

Gut möglich, daß jemand etwa berufsbedingt, einige Tage in der Woche den „Mittelpunkt" seiner Lebensinteressen irt der Bundeshauptstadt samt Wohnsitz hat, die anderen Tage aber genau so „ordentlich" in einem anderen Bundesland wohnt, dort vielleicht sogar den „Mittelpunkt" seiner gesellschaftlichen Lebensbeziehungen hat. Bei vielen Studenten ist die Situation ja ähnlich.

Zugegeben: Für Behörden und Amter ist es bequemer, einen Menschen an einer Adresse festzunageln. Und für die Politik - man erinnere sich nur an die Kopfjagd im Zusammenhang mit der Volkszählung als Grundlage für den Finanzausgleich - ist es wichtig. Aber für eine mobile Gesellschaft ist eine solche Einengung unsinnig -wenn sie nicht ohnehin verfassungswidrig ist: Denn der Verfassungsgerichtshof hat bereits -wenngleich „nur in Ausnahmefällen" ^ auch die Möglichkeit von zwei oder mehr ordentlichen Wohnsitzen anerkannt. Und was das Höchstgericht erlaubt, will der Innenminister Bürgern verweigern?

Ein modernes Meldegesetz muß sich der Lebenswirklichkeit der Menschen anpassen, nicht umgekehrt. Im Computerzeitalter sollten doch auch andere Lösungen möglich sein, um mit dem Chaos im Meldewesen, das es heute fraglos gibt, aufzuräumen. Und man sollte wenigstens so modern denken, wie die Schöpfer der Jurisdiktionsnorm schon vor 100 Jahren gedacht haben.

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