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Ordinarius erst mit 63

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Allgegenwärtig ist das Wort .Verdrängung. Es gibt kein besseres zur Bezeichnung des Phänomens der Erinnerungs-Blockade als individueller, sehr wohl aber auch als kollektiver, politischer Vorgang.

Allgegenwärtig ist das Wort Fehlleistung. Es gibt kein besseres zur Bezeichnung der Peinlichkeit, daß einem durch einen Versprecher genau das herausrutscht, was man ganz und gar nicht sagen wollte.

Allgegenwärtig ist das Wort Assoziation Allgegenwärtig sind Termini wie unbewußt oder das Unbewußte, womit Freud etwas ganz anderes meinte als andere mit dem Unterbewußtsein (auch diese Verwechslung ist allgegenwärtig), wie Libido, Komplex, Neurose - ein gewaltiges, alltäglich gewordenes Vokabular stammt von Freud oder verdankt ihm die Besetzung mit neuen Inhalten.

Selbst wenn von Freud und der Psychoanalyse nichts bliebe als das Vokabular, hätte dieses allein unser Bild vom Menschen verändert, unser Verständnis seelischer Vorgänge vertieft, kaum einen Zweig der Psychologie unberührt gelassen Der von ihm geschaffene Apparat von Begriffen und seine Denkweisen eröffneten neue Zugänge zum Verständnis des Menschen Viele seiner Ansichten sind nicht mehr haltbar. Trotzdem bleibt er ein Bahnbrecher. Ein großer Teil einstiger wie heutiger Freud-Gegnerschaft ist denn auch nicht der Bemühung um Wahrheit entsprungen, sondern einem ganz anderen Boden.

Freud wies nach einigen wissenschaftlichen Umwegen dem Geschlechtstrieb die zentrale Stellung in der Triebstruktur des Menschen zu, meinte, daß nur durch seine „Sublimierung“ den durch die gesellschaftlichen Tabus bedingten Fehlentwicklungen auszuweichen sei und entwickelte von da aus seine Theorien zur Erklärung aller kulturellen und sozialen Phänomene.

Sein zentraler therapeutischer Ansatz geht - vereinfacht - davon aus, daß der Bewältigung von Konflikten durch Verdrängung eine Schlüsselrolle im Seelenhaushalt des Menschen zukommt, daß verdrängte frühkindliche sexuelle Konflikte zu Neurosen führen können, daß sich das Verdrängte im Traum verschlüsselt offenbart, daß diese Verschlüsselungen durch Zusammenarbeit zwischen Patient und Therapeut in der Psychoanalyse entschlüsselt werden können und daß dem Patienten durch Zurückgehen zu den Ursprüngen seiner Probleme und Bewußtmachen ihres Ursprungs zu helfen ist.

Die Freud-Rezeption ist vor allem in Wien von Freuds Judentum nicht zu trennen, ein großer Teil der Freud-Gegnerschaft vor allem in Wien, aber keineswegs nur hier, war mehr oder weniger schlecht verbrämter Antisemitismus. Freuds Lebenszeit deckt sich mit dessen Erstarken

Sigmund Freuds Lebensgeschichte ist denn auch nicht nur die einer gewaltigen Lebensleistung, einer der bedeutendsten des Jahrhunderts, und auch eines gewaltigen Lebenserfolges, sondern auch die jahrzehntelanger Frustration (auch dies eines „seiner“ Wörter). Seltsamerweise verschwenden all die Deuter seiner eigenen Psyche, die derzeit heftig am Werk sind, wenig Mühe auf Klärung der Frage, wieviel von der Unversöhnlichkeit und Härte, mit der er seine Positionen vertrat, auf Bitterkeit aufgrund der totalen Mißachtung, die ihm das offizielle akademische Wien entgegenbrachte, zurückgeführt werden kann

In einer Zeit, in der die Dozenten der Medizinischen Fakultät durchschnittlich acht Jahre auf die Professurwarteten, wartete Freud nach der Habilitation (1885) und mehreren bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen (zJB. Nachweis der Hysterie beim Mann) 17 Jahre. Berühmte Kollegen setzten sich für ihn ein -vergeblich.

Er blieb außerordentlicher Professor - bis zu seinem 63. Lebensjahr. In dieser akademischen NichtKarriere hat der Sieger über die Paralyse, der große Julius Wagner-Jauregg, eine wenig rühmliche Rolle gespielt. Als 1899 eine Titelvergabe an Freud diskutiert wurde, äußerte er sich nicht nur negativ, sondern auch falsch: Freud habe sich -dies trotz dessen Studien über die Hysteriet - nie eingehender mit Psychiatrie befaßt. Worauf Freud weitere drei Jahre auf den „a.o. “ warten mußte. Als zwei Jahrzehnte später die ordentliche Professur des 63jährigen Freud wirklich nicht mehr zu verhindern war, gelang Wagner-Jauregg eine klassische Freudsche Fehlleistung: Er beantragte als Vorsitzender der Kommission für Freud die ordentliche Professur, die „gewiß nicht als vorzeitig bezeichnet werden“ könne, schrieb aber irrtümlich „Ernennung zum außerordentlichen Professor“.

18 weitere Jahre später durfte Sigmund Freud Wien verhältnismäßig unbehelligt verlassen Er war in der Zwischenzeit weltberühmt geworden Während sich sein gesundheitlicher Zustand stetig verschlechterte (der starke Zigarrenraucher litt an einer quälenden Krebserkrankung in der Mundhöhle), erschien in den „Süddeutschen Monatsheften“ die berüchtigte Ausgabe „Gegen Psychoanalyse“, in der es hieß, Freuds Lehre wirke „auf die Patienten, ja auf die ganze Menschheit als Vergiftung “, kam Hitler an die Macht, entstand der Briefwechsel „Warum Krieg?“ zwischen Freud und Einstein

US-Präsident Roosevelt wies 1938 seinen Botschafter an, auf Freuds Wohlergehen zu achten, Benito Mussolini wandte sich mit der Bitte um Schonung an Hitler, Prinzessin Marie Bonaparte, Freuds Förderin, reiste aus Frankreich nach Wien und intervenierte. SA-Männer drangen ein und entfernten sich mit dem gesamten Bargeld der Familie, deren Konten gesperrt wurden Aber Freud durfte seine berühmte archäologische Sammlung mit ins Exil nehmen, die er in Jahrzehnten aufgebaut hatte - das Sammeln von Ausgrabungen war, neben dem Rauchen, seine Sucht.

Genötigt, den Nazis seine gute Behandlung zu bestätigen, schrieb Freud: „Ich kann die Gestapo jedermann empfehlen“

Vier betagte Schwestern blieben zurück. Sie wurden 1942 nach The-resienstadt, drei vermutlich von dort in die Vernichtungslager Malyi Trostinec und Treblinka gebracht Im Nürnberger Prozeß sagte ein Zeuge aus, eine ältere Frau sei bei der Ankunft in Theresienstadt auf den stellvertretenden Lagerkommandanten Kurt Franz zugegangen, habe einen Ausweis vorgezeigt und mit der Bemerkung, sie sei die Schwester Sigmund Freuds, um eine leichte Büroarbeit gebeten Der Kommandant sah den Ausweis gründlich an und sagte, das ganze sei ein Irrtum, sie könne heimfahren, in zwei Stunden gehe ein Zug nach Wien ab, sie solle Wertsachen und Papiere hierlassen und einstweilen ins Badehaus gehen „Natürlich ist die Frau ins Badehaus gegangen, von wo sie niemals mehr zurückkehrte.“

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