6816501-1973_12_06.jpg
Digital In Arbeit

Ordnung kontra Bewegung

Werbung
Werbung
Werbung

Unlängst erregte eine Ersatzwahl in das britische Unterhaus Aufsehen, weil sie das Problem des Verhältnisses zwischen der Persönlichkeit und der Parteidisziplin ins Licht rückte. Ein Abgeordneter der Labourpartei namens Dick Taverne war mit der Parteimaschine in Konflikt geraten, weil er entgegen ihrer Weisung im Parlament für den Beitritt Großbritanniens in die EWG gestimmt hatte. Daraufhin demissionierte er von seinem Abgeordnetensitz und machte die Bürger senes Wahlkreises zu seinen Richtern, indem er als Unabhängiger kandidierte. Die Labourpartei stellte gegen ihn einen offiziellen Kandidaten auf, desgleichen die Konservativen. Aus dieser Dreieckswahl ging er mit einem großen Stimmenüberschuß gegen seine Konkurrenten als Sieger hervor.

Die Zeitungen sagten in ihren Kommentaren, daß die Wähler durch ihre Haltung nicht in erster Linie den Beitritt Englands zur EWG billigen, sondern den Mut anerkennen wollten, mit dem ihr Abgeordneter entgegen den Befehlen der Parteimaschine seiner Meinung treugeblieben war. Man sprach von einem „Triumph über den Apparat“ und von einem Protest „gegen parteitaktisches Lavieren und Paktieren“.

Nun ist England seit dem 18. Jahrhundert das Land, dem es besser als jedem anderen gelungen ist, ein bewundernswertes Gleichgewicht zwischen den Rechnen der Gesellschaft und den Rechten des Individuums, zwischen der politischen Ordnung und den Freiheiten der menschlichen Person herzustellen. Weder der Parteiapparat noch der Staatsapparat sind allmächtig, und es bleibt dem einzelnen Bürger unverwehrt, selbst gegenüber behördlichen Weisungen sein Verhalten selbst zu bestimmen. Sich selbst treu zu bleiben, also möglicherweise mit dem gesellschaftlichen und parteipolitischen Konformismus in Konflikt zu geraten, wird in England nicht als Untugend, sondern als das gute Recht des Staatsbürgers betrachtet. Innerhalb der westlichen Welt sind die Engländer das toleranteste und daher auch das freieste Volk.

Die Frage des Verhältnisses zwischen Persönlichkeit und Parteidisziplin, allgemeiner zwischen der individuellen Freiheit und der kollektiven Autorität hat in unserer Zeit große Bedeutung erlangt. Es liegt im Wesen der Politik, daß die Parteien versucht sind oder sieh gar für berechtigt halten, Meinungen zu vertreten, von denen sie erwarten, daß der einzelne Bürger sie zu befolgen habe. Grundsätzlich gewährt zwar der demokratische Staat Meinungsfreiheit; aber wenn es nicht die von der Partei oder dem von den Parteien regierten Staat als „richtig“ betrachtete Meinung ist, kann es dem einzelnen zum Nachteil gereichen.

Was sind Parteien? Sie sind Organisationen privatrechtlicher Natur, also Vereine, in denen sich Gleichgesinnte zusammenschließen, die ein bestimmtes Programm zur Grundlage ihres politischen Handelns machen. Sie sind in der liberalen Demokratie Pflanzstätten der politischen Meinungsbildung und Kampfverbände zur Eroberung der Macht im Staate. Da der Beitritt zu einer Partei freiwillig ist, bleibt in der Regel ihre Mitgliederzahl beschränkt. Der größte Teil der Wahlberechtigten eines Landes gehört keiner Partei an. Ihre Wirksamkeit und Macht erhalten die Parteien dadurch, daß sie als „Wahlmaschinen“ unentbehrlich sind. Ihnen gegenüber haben Parteilose oder kleine Gruppen wenig Aussicht, auf die Staatspolitik Einfluß nehmen zu können.

Auch der Parteilose wird, wenn er es nicht vorzieht, sich der Stimme zu enthalten, bei Wahlen den Vertretern derjenigen Partei seine Unterstützung leihen, der er sich verbunden fühlt und von der er erwartet, daß sie seine Interessen am besten verfechten wird. Denn die wirtschaftliche und soziale Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß das Parteiwesen sich weitgehend zu einer Vertretung materieller Interessen gewandelt hat. Der weltanschauliche Gehalt der Parteiprogramme, an dem man die Meinungen deutlich ablesen konnte, ist dürftiger geworden — es sei denn, daß es sich, wie bei den jüngsten französischen Wahlen, um die grundsätzliche Frage des Weiterbestehens oder der Veränderung der bisherigen Staats- und Gesellschaftsform handelt. Denn es ist nicht zu bestreiten, daß das Grundsätzliche bei der politischen Zielsetzung der kommunistischen Partei, mit der in Frankreich die Sozialisten ein Bündnis geschlossen haben, im Vordergrund steht.

Nun handelt es sich im politischen Leben nicht selten um die Frage, ob das Volk die Stabilität der Verhältnisse vorzieht, also eine bewahrende Gesinnung hat, oder ob es Veränderungen grundsätzlicher Art wünscht. In Frankreich unterschied man schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen „parti de Pordre“ (Ordnungspartei) und dem „parti du mouvement“ (Partei der Bewegung). Bei den jüngsten Wahlen zur Nationalversammlung rangen diese beiden Richtungen von neuem um die Macht im Staate.

Doch um welche Parteirichtung es sich immer handeln möge: die Parteimaschinen oder der „Apparat“ unterliegen infolge ihrer Machtfülle manchmal der Versuchung, die Geister im Lande beherrschen zu wollen. Abweichende Ansichten einzelner oder ganzer Gruppen, insbesondere die Unabhängigkeit der Presse und der Massenmedien von der Autorität des Parteienstaates, sind den Apparaten ein Dorn im Auge. Obgleich die Personen, die diesen Apparat bilden, selber aus einer relativ kleinen Minderheit von Staatsbürgern hervorgegangen sind, steht ihr Trachten danach, die öffentliche Meinung zu be herrschen und individuelle Regungen zu unterbinden. Damit die Unabhängigkeit der Presse als Träger der öffentlichen Meinung bewahrt werden kann, wäre es in großen Demokratien, wie Amerika, England, Frankreich oder Westdeutschland, undenkbar, daß sich ein Chefredakteur oder einer seiner politischen Redakteure ins Parlament wählen ließe. In Bayern hat der Angriff der stärksten Landespartei, der CSU, auf die Unabhängigkeit des Bayerischen Rundfunks bisher mit der Unterstützung weiter Kreise der Bevölkerung abgewehrt werden können.

Der eingangs erwähnte Vorfall in England, wo die Wähler einem Politiker, der gegen seinen Parteiapparat rebelliert hatte, ihr Vertrauen erneuerten, ehrt dieses Land. Nur so lange, wie ein Volk eine unabhängige Meinung zu schätzen weiß und notfalls diejenigen schützt, die zu ihrer Meinung stehen, kann in einer Parteiendemokratie die Freiheit erhalten bleiben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung