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Orientieren statt manipulieren!
Kinder- und Jugendliteratur als eigenständige Gattung befand sich stets im Spannungsfeld von Literatur und Pädagogik. Verfolgt man die historische Entwicklung, so stand lange Zeit unangefochten das pädagogische Anliegen im Vordergrund. Ziel war die bewußte und beabsichtigte Beeinflussung des Lesers, die literarische Form war didaktisches Mittel hiefür.
Ein handliches Instrument zur Sozialisation entstand, immer zielgruppenorientiert am jungen Leser als einem Nicht-Vollmenschen: Der Heranwachsende sollte einerseits vor den Schrecken der Welt „verschont“ werden, andererseits sollte eine schrittweise Integration in die Welt der Erwachsenen, das heißt in die jeweilige gesellschaftliche Situation mit ihrem jeweils spezifischen Menschenbild und der jeweiligen Werte-Hierarchie, möglichst un-problematisiert (= manipuliert) erfolgen.
Der „Trotzkopf“ war ebenso Ergebnis dieser Einstellung, wie es auch viele Kinder- und Jugendbücher aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und des Nationalsozialismus waren.
Die gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind aber auch an der Kinder- und Jugendliteratur keineswegs spurlos vorbeigegangen: Neben dem literarischen Geltungsanspruch erfolgte auch die Öffnung der Inhalte hin zu einem ganzheitlichen
„Mensch-Verständnis“ des Heranwachsenden.
Kinder- und Jugendliteratur als Teil der Gesamtliteratur unterscheidet sich nur noch unwesentlich von Erwachsenenliteratur. Triviales steht neben literarischen Kunstwerken. Kinder- und Jugendliteratur sendet Botschaften (ebenso vom jeweiligen Zeitgeist geprägt), signalisiert Denkprozesse, bietet dem Leser ein Weltbild an, will Unterhaltung, Spannung und Spaß bieten. Kinder- und Jugendliteratur ist — wie Erwachsenenliteratur - nicht wertfrei, nicht neutral. Hinter jedem Text steht ein Autor (Verfasser), ein Mensch mit seiner jeweils eigenen Welt- und Wertesicht.
Die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologie weist dem Lesen eine neue Bedeutung zu. Im Gegensatz zur medialen „Konsumhaltung“ verlangt Lesen geistige Abläufe, aktive Betätigung: Analyse und kritisches Denken. Es ist gleichzeitig Möglichkeit zur Kommunikation: zunächst zwischen Autor und Leser, dann aber auch zwischen Leser und Gesellschaft.
Somit darf es nicht egal sein, welche „Druckwerke“, „was“ unsere Heranwachsenden lesen — und zwar beginnend mit dem ersten Bilderbuch für die Kleinsten.
Schauen zu lernen, Lesen zu lernen, Text und Bild zu einem Ganzen zusammenfügen zu lernen; Hintergründe zu erkennen, sich mit dem Helden zu identifizieren, aber auch sich von ihm und dem
Text wieder zu distanzieren und eigene Meinungen zu entwickeln ist ein langjähriger und wesentlicher Prozeß in der Entwicklung eines jungen Menschen.
Diese Entwicklungsschritte muß der erziehende Erwachsene mit dem Kind der Reihe nach durchgehen und einüben — immer im Bewußtsein, einen in seinem Kindsein vollwertigen Menschen, dem Achtung gebührt, neben sich zu haben. Dieser Erwachsene sieht sich nicht länger in der Rolle des „ewigen Besserwissers“, sondern als „selber Suchender“ in einer Welt, „in der wenig so ist, wie es sein sollte“ (Christine Nöstlin-ger).
Ziel solcher Pädagogik ist — im Gegensatz zu früher — der entscheidungsfähige, mündige Mensch, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, und der im Wissen um die vielfältigen Möglichkeiten des Lebens seinen ganz spezifischen Platz in seiner Welt einzunehmen imstande ist.
Dieses Selbstverständnis von Kinder- und Jugendliteratur setzt „Beeinflussung“ voraus. Wo diese aber ihr Ziel und ihre Absicht kundtut und ohne verachtende Besserwisserei andere Sichtweisen nicht ausschließt, dort darf nicht die Rede von Manipulation, sondern muß die Rede vom Angebot der Orientierungshilfe sein.
Die Autorin leitet die kirchliche Studien-und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (1010 Wien, Freyung 6).
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