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Orientierung nach Westen

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Der Autor hat eben eine Studie unter dem Titel „Die österreichische Wirtschaft zwischen 1938 und 1945“ herausgebracht. Wir haben ihn gebeten, die Grundzüge dieser Darstellung für die FURCHE überblicksartig darzustellen.

In jüngerer Zeit hat die Erforschung der österreichischen Wirtschaftsgeschichte, insbesondere jene der Industrialisierung, einen großen Aufschwung genommen. Bis zum Ende der Ersten Republik wurde die ökonomische Entwicklung einigermaßen erschöpfend bearbeitet. Ausgeklammert blieb bisher nur die Zeit zwischen 1938 und 1945, obwohl diese aus vielen Gründen für die Nachkriegsentwicklung große Bedeutung erlangte.

In Deutschland hatten zwischen 1933 und 1937 bereits die Regierungen Papen und Schleicher auf Grund von Anregungen deutscher Prä-Keynesianer expansive Maßnahmen ergriffen, die von den Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung fortgesetzt wurden. In der Folge jedoch führte die forcierte deutsche Aufrüstung zu Verknappungen an Rohstoffen, sachlichen Kapazitäten und Arbeitskräften, welche immer tiefere Eingriffe in den Wirtschaftsablauf bedingte.

Diese Mangelerscheinungen waren mitbestimmend für den „Anschluß“ Österreichs. Der stürmische Boom, der danach in Österreich einsetzte, resultierte allerdings weniger aus deutschen Rüstungsaufträgen als aus binnenwirtschaftlichen expansiven Maßnahmen, die relativ rasch zu Vollbeschäftigung führten und Zuwachsraten des realen Brutto-Natio-nalprodukts von 12,8% (1938) und 13,3% (1939) erbrachten.

Die Wirtschaftsentwicklung im damaligen deutschen Reichsgebiet läßt sich in zwei deutlich unterscheidbare Phasen einteilen: Die erste wurde vielfach als die der Quasifriedenswirtschaft bezeichnet, weil sich darin keine tiefgreifenden Veränderungen der Produktions- und Verwendungsstruktur ergaben

Österreich nahm in seiner Entwicklung eine Sonderstellung ein, die darin begründet war, daß die österreichischen Rohstoffe und Industriekapazitäten für die deutsche Rüstung eine besondere Rolle spielten. Es wurde daher eine Reihe von kriegswichtigen Großprojekten in Angriff genommen, die schon von ihrer Zielsetzung her vom Kriegsausbruch nicht beeinflußt werden konnten.

Dies dokumentierte sich in der Beschäftigung der Bauindustrie, welche 1940 in Deutschland um 23% schrumpfte, in Österreich aber um 2,8% expandierte. Auch in der Industrieproduktion und -beschäftigung zeigte sich in Österreich eine günstigere Entwicklung.

Mit den ersten schweren militärischen Rückschlägen durch den Krieg gegen die Sowjetunion begann eine neue Ära der deutschen Wirtschaftspolitik, welche mit dem Namen Speer verbunden ist: die des „totalen Krieges“. Abgesehen von einer Reorganisation der Rüstungsproduktion läßt sich nunmehr sagen, daß die gesamte wirtschaftliche Koordination mehr oder minder zentral geplant war, und zwar durch mengenmäßige Zuteilung.

Im Bereich der Rüstungsproduktion erwies sich diese Reform als erfolgreich. Zwischen Dezember 1941 und Juni 1944 erhöhte sich die Beschäftigung in der Rüstungsindustrie um ein knappes Drittel, die Produktion stieg um 230%. Da in der zweiten Kriegsphase das Brutto-National-produkt praktisch stagnierte, konnte dieses Ziel nur durch eine weitere dramatische Umschichtung von Ressourcen erreicht werden.

Die besondere Position der österreichischen Wirtschaft innerhalb des damaligen Deutschen Reiches wurde in der zweiten Kriegsphase noch deutlicher sichtbar als in der ersten. Dafür gab es drei Gründe.

Zunächst waren von der zweiten Hälfte des Jahres 1941 an mehrere jener Produktionsanlagen in Österreich fertiggestellt worden, deren Errichtung die Deutschen unmittelbar nach dem „Anschluß“ in Angriff genommen hatten. So wurde der Hochofen der Hütte Linz angeblasen, in den Flugzeugwerken Wiener Neustadt begann die Produktion von Jagdflugzeugen voll zu laufen, ebenso fing das Kugellagerwerk Steyr zu arbeiten an. Auch die Raffinerie Lobau nahm im neuen Ölhafen ihre Tätigkeit auf.

Zweitens gewann die österreichische Industrie auch deshalb stärkeres

Gewicht für die Rüstungsendferti-güng, weil nunmehr zunehmend derartige Aufträge an sie ergingen. Letztlich aber wurden mit der Intensivierung des Luftkrieges über Deutschland immer mehr Betriebe nach Österreich verlegt, welches zunächst außerhalb der Reichweite alliierter Bomben lag.

Damit wurde die Verlagerung der Ressourcen zur Industrie noch deutlicher. Zwischen 1941 und 1944 expandierte die österreichische Industriebeschäftigung durchschnittlich um 11,4% jährlich, die deutsche dagegen um 1,2%. Natürlich mußten alle übrigen Wirtschaftszweige - mit Ausnahme der Landwirtschaft und des öffentlichen Dienstes - Arbeitskräfte abgeben. Ende 1944 sank die Wertschöpfung der Industrie - im schroffen Gegensatz zu Deutschland - nur um rund 10%.

Mit voller Stärke setzten die Luftangriffe in Österreich ab Februar 1945 ein. Erst in der letzten Kriegsphase wurden die schweren Angriffe

gegen die Stadtzentren von Wien, Graz, Linz und Wiener Neustadt geflogen. Insbesondere die Industrieagglomeration um Wiener Neustadt fiel der vollständigen Vernichtung anheim.

Schließlich erfaßten gegen Kriegsende die unmittelbaren Kampfhandlungen den Osten Österreichs, wodurch weitere Produktionsanlagen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Im Gegensatz dazu blieb der Westen von Kampfhandlungen fast unberührt. Die schwersten Schäden an den Produktionskapazitäten dürften sich somit schon damals auf den Osten des Landes sowie Oberösterreich und die Steiermark konzentriert haben.

Sieht man von den kurzfristigen Auswirkungen des „Anschlusses“ ab (die Einkommensverbesserung pro Kopf der österreichischen Bevölkerung dürfte bis Ende 1941 wieder verlorengegangen sein), stellt sich die Frage nach den längerfristigen Folgen.

Die Okkupations- und Kriegszeit bewirkte eine Reihe wesentlicher struktureller Umstellungen der österreichischen Wirtschaft. Das Schwergewicht der österreichischen Industrie verlagerte sich von der traditionellen Konsumgütererzeugung zu den Grundstoffen, Vormaterialien, dauerhaften Konsumgütern und zur Bauwirtschaft Dabei gingen vor allem in den erstgenannten Bereichen die Kapazitäten weit über die Inlandsnachfrage hinaus. Gerade diese Betriebe wurden die Träger des österreichischen Nachkriegsexports.

Eine weitere Strukturverschiebung vollzog sich in Richtung des effizienten Großbetriebs. Parallel dazu vollzog sich auch eine regionale Umschichtung, die sicherlich eine bessere Ausschöpfung lokaler Arbeitskraftreserven begünstigte sowie für die weltwirtschaftliche Lage nach 1945 Standortvorteile schuf.

Letztlich bedeutet der „Anschluß“ aber auch eine grundlegende regionale Umstellung des österreichi-

schen Außenhandels, eine prinzipielle Gewichtsverlagerung vom Osten nach Westen: Die Wirtschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie war als solche einer Großregion im hohen Maß auf den Binnenmarkt orientiert; ein beträchtlicher Teil des Außenhandels, der vorwiegend traditionelle Konsumgüter (Textilien) umfaßte, ging - auch in der Ersten Republik - in ost- und südosteuropäische Länder.

Der „Anschluß“ erzwang eine totale Umorientierung; der dominierende Außenhandelspartner wurde Deutschland. Diese Umstellung mußte in dem Augenblick eine sol-•che zu den westlichen Industriestaaten werden, in dem Deutschland deren integrierender Bestandteil geworden war. Damit kamen eine Produktions- und Betriebsstruktur sowie ein technisches Niveau zustande, welche es Österreich ermöglichten, sich auf den westlichen Märkten durchzusetzen.

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