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Osteuropa ist keine Kolonie des Westens

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Die mechanische Trennung Europas, der „Eiserne Vorhang" von der Ostsee bis zum Mittelmeer, wurde weggefegt. Das gesellschaftliche System im Osten ist zusammengeborchen. Eine neue Ordnung muß begründet werden. Aber nach welchen Kriterien ist sie einzurichten? Und wie ist dabei vorzugehen? ``

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Die mechanische Trennung Europas, der „Eiserne Vorhang" von der Ostsee bis zum Mittelmeer, wurde weggefegt. Das gesellschaftliche System im Osten ist zusammengeborchen. Eine neue Ordnung muß begründet werden. Aber nach welchen Kriterien ist sie einzurichten? Und wie ist dabei vorzugehen? ``

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Wir in Westeuropa sind auf einmal mit Menschen konfrontiert, die - überspitzt formuliert - Weiße sind wie wir, die in den letzten tausend Jahren dieselben Schritte in der Geschichte durchmachten wie wir, die den christlichen Kulturkreis mit uns Westeuropäern in den letzten tausend Jahren aufgebaut haben, teilweise unsere Sprache sprechen und unsere europäische Tradition pflegen, sich als die Europäer betrachten, überhaupt keine Probleme mit ihrer kulturellen Identität haben und auf dem Standpunkt stehen: Endlich haben wir das ideologische Joch abgeworfen und sind wieder in Gesamteuropa zu Hause bei unseren Brüdern, und das Leben kann wieder dort aufgenommen werden, wo es vor 71 beziehungsweise 45 Jahren durch widrige Umstände abgerissen ist (allerdings wissen sie nicht mehr, wie das Leben vor 71 beziehungsweise 45 Jahren ausgesehen hat und auf welchen Fundamenten es aufgebaut war).

Sie umfassen, und das ist für „Westeuropäer" so unvorstellbar, zirka 350 Millionen Menschen. Sie sind der heimkehrende „Große Bruder". Die zwar komplizierte, aber berechenbare Weltordnung Ost-West und Drittländer ist zusammengebrochen.

Ein verarmter Vagabund, den das Schicksal eine Zeitlang den Wirren der Zeit ausgesetzt sowie aus der menschlichen Geborgenheit und der normalen Entwicklung ausgeschlossen hat, der sich den Wissensstand der letzten 71 beziehungsweise 45 Jahre nicht einverleibte und alles, was er in dieser Zeit lernte, vorerst als nutzlos und nicht zielführend begreift, kommt nach Hause und sagt laut: „Nun bin ich da, und ihr müßt mir helfen, schnellstens dorthin zu kommen, wo ihr seid, da es ja der normale Standard ist."

Nach dem ersten Schock und der großen Freude beginnen die unausweichlichen Probleme. Der heimgekehrte „Große Bruder" will nicht so, wie er sollte und wie wir Westeuropäer es wollen, und wir denken nicht daran so zu reagieren, wie er es von uns haben will - warum auch? Da wir aber beide eine Familie bilden und keinen Krach miteinander haben möchten, versuchen wir es mit einem Dialog - und da entsteht die Katastrophe: Wir können uns nicht in den kurzfristig wichtigen Punkten verständigen. Wir reden aneinander vorbei.

Unsere gesamteuropäische Kultur fußt auf denselben Fundamenten. Aber auf dem kurzfristig wichtigsten Gebiet, der wirtschaftlichen Ebene, können wir uns nicht unterhalten. Der Inhalt unserer Worte ist verschieden. Wir Westeuropäer sind frustriert, daß unsere Ratschläge nicht angenommen werden, da wir auf der anderen Seite wissen, daß Osteuropa uns nacheifern möchte.

Fast jeder Dialog läuft irgendwo auf Sand. Wir haben es aber wahrscheinlich noch gar nicht richtig begriffen, daß unsere Ratschläge, trotz bester Bemühungen von beiden Seiten, dort überhaupt nicht verstanden werden, da wirnicht dieselben Inhalte unter denselben Begriffen haben. Markt ist nicht Markt, Rentabilität nicht Rentabilität, Verantwortung nicht Verantwortung, Herstellungskosten nicht Herstellungskosten, Bauer nicht Bauer...

Und was das Gravierendste ist: Eigentum ist nicht Eigentum und Unantastbarkeit des Eigentums nicht Unantastbarkeit des Eigentums. Wenn wir nicht mehr weiterwissen, da wir einerseits einen Dialog führen und andererseits aneinander vorbeireden, werden wir mit simplen Beispielen in die Realität zurückgeholt.

Bei einer Diskussion mit ehemaligen ostdeutschen Wirtschaftsvertretem versuchte ich aufzuzeigen, daß gewisse theoretische westdeutsche Vorstellungen der fünfziger Jahre heute nur mit großen Modifikationen, wenn überhaupt, für Osteuropa anzuwenden wären.

Daraufhin erfuhr ich, daß meine Betrachtungen praktisch widerlegbar seien, da wir beide Deutsche seien, dieselbe Sprache sprechen und etwa gleich alt seien; nur: Das Resultat meiner wirtschaftlichen Betrachtun> gen und Strategien sei ein Mercedes 500 SEL und das Resultat ihrer bisherigen Betrachtungen und Strategien eben ein Trabant. Meine Vorbehalte gegen gewisse Vorgehen, die sie bei uns kopieren möchten, seien nicht aufrichtig, und ich gönnte ihnen ähnliche Erfolge, die uns im Westen beschieden wären, anscheinend nicht. Was läßt sich darauf ohne Emotionen antworten?

Osteuropas zwar mühsame, aber bisher in geringem Maße doch funktionierende Wirtschaft ist total zusammengekracht, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen. Dies bedeutet für Osteuropa in kürzester Zeit, falls keine vernünftige Hilfe seitens der freien Marktwirtschaft geleistet werden kann: ungeahnt hohe Arbeitslosigkeit im ganzen Bereich; nicht abschätzbare Inflationsraten; Hungersnöte, da kurzfristig nicht einmal die Lebensmittel-Selbstversorgung aufgebaut werden kann; nicht kalkulier- und steuerbare soziale Unruhen; Flüchtlingsströme, diesmal Wirtschaftsflüchtlinge, in ungeahnter Höhe Richtung „Honigtopf' Westeuropa, die weder militärisch noch durch „Westliche Eiserne Vorhänge" aufzuhalten sein werden.

Geht man davon aus, daß nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung Osteuropas flüchten, bedeutet dies, daß 3,5 bis sieben Millionen Osteuropäer nach Westeuropa strömen werden. Das sind Zahlen, die man sich zuerst vergegenwärtigen muß, denn sie können bis zu vier Prozent der westeuropäischen Bevölkerung ausmachen.

Es gibt Schätzungen einiger Forschungsinstitute in Deutschland, die zwischen 25 und 30 Millionen entwurzelte, auf der Wanderung Richtung Westen befindliche Osteuropäer aufzeigen, deren Spitze mit Bestimmtheit bis zur Westgrenze Westeuropas vorstoßen wird.

Diese Fakten, von einigen verdrängt und von anderen als zu pessimistisch bezeichnet, zwingen Westeuropa, den zur Zeit beginnenden Umbruch in Osteuropa aktiv und fair mitzugestal-ten. Osteuropas wirtschaftlicher Um-und Aufbruch ist am Anfang mit einer ungeheueren Dynamik behaftet, unwiederkehrbar, zur Zeit unblutig und hat ein Vorbild - das ist Westeuropa. Andererseits muß es uns klar sein, daß aus der Sicht Osteuropas Westeuropa der angepeilte Partner sein wird, der in diesen Prozeß, ob er will oder nicht, eingebunden sein wird. Westeuropa bleiben zwei Möglichkeiten:

- Entweder es leistet Hilfestellung und steuert diesen Prozeß, das wird im Innersten von Osteuropa erhofft und erwartet, oder

- es wird von den Ereignissen überrollt und muß von seinem wirtschaftlichen Wohlstand in kürzester Zeit unfreiwillig große Teile abgeben.

Wie wird die Wohnungssituation in Westeuropa aussehen, falls es gezwungen wird, die Flüchtlinge bei sich unterzubringen? 3,5 bis sieben Millionen verzweifelte Menschen können nicht per Gesetzesbeschluß hinter die Grenzen abgeschoben werden. Um diesem Problem noch eine zusätzlich greifbare Dimension zu geben: Wir müssen uns vor Augen halten, daß wir hier von Zeiträumen sprechen, die die nächsten zwei bis fünf Jahre umfassen können.

Wie können wir eine auch in unserem Interesse liegende, schnelle und faire Hilfestellung bei dieser gewaltigen wirtschaftlichen Umwälzung im ehemaligen Ostblock geben?

- Zuerst müssen wir die Entwicklung verstehen.

- Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, Westeuropa in diese Entwicklung vernünftig integrieren, da uns andererseits nur die Möglichkeit der Bekämpfung übrig bleibt, die auch unsere Wirtschaftsordnung und Stabilität in ein nicht berechenbares Chaos stürzen würde. Ein Abseits-Stehen ist nicht möglich.

- Wir müssen begreifen, daß wir bei der Neugestaltung aktiv mitwirken müssen, um - spitz gesagt - das eigene Überleben zu sichern.

Kurzfristiges, überhöhtes Profitdenken zugunsten unseres eigenen westeuropäischen Wirtschaftssystems und zu Lasten der anderen wird von Osteuropa nicht hingenommen werden. Wir dürfen nicht vergessen, daß eine systematisierte Ausbeutung Osteuropas der Auslöser dieser enormen Umwälzungen ist. Die Menschen in Osteuropa, und insbesondere die Menschen, die jetzt dort Verantwortung tragen, sind zur Zeit noch offen, vertrauensvoll und bereit, jede Vorgabe von uns Westeuropäern anzunehmen, unter der Voraussetzung, daß sie das Gefühl haben,

- vollwertige Partner zu sein,

- nicht ausgebeutet und nicht kolo-nialisiert zu werden,

- daß ihr partieller Wissensmangel auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht schamlos ausgenützt wird und

- daß wir Westeuropäer bereit sind, sie in die Geheimnisse, die uns unseren hohen Lebensstandard ermöglichen, einzuweihen, um sie somit in die Lage zu versetzen, diesen für sie in Gedanken absolut normalen Standard auch zu erreichen.

Osteuropa ist eine Hälfte des Hauses Gesamteuropa, und zwar jene Hälfte, die durch eine Katastrophe zusammengefallen ist. Wenn sie nicht wieder aufgebaut und erneuert in das ganze Haus integriert wird, wird mit der Zeit alles zur Ruine.

Der Autor ist Industriekonsulent in Wien, sein Beitrag ein Auszug aus seinem Vortrag am 20: Internationalen Symposium der Österreichischen Gesellschaft für Land- und Forstwirtschaftspolitik in Jennersdorf.

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