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Parlament der Statisten

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Seit Karl Lütgendorf das Handtuch geworfen hat, ist die Runde der politischen Freistilringer Österreichs um einen Star ärmer. Öffentlichkeit, Presse, Rundfunk und Parteien werden zur Tagesordnung übergehen und vermutlich sehr bald einen neuen Lütgendorf zum Abschuß freigeben.

Besser wären wir freilich beraten, uns einiger entscheidender Schönheitsfehler dieser Affäre bewußt zu werden, die bestimmt nicht in der Person Lütgendorfs begründet waren.

Der Oppositionsabgeordnete Walter Hauser kam als Hauptredner seiner Partei in jener Sitzung des Nationalrates, in der der Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die Waffenaffare zur Debatte stand, sehr offenherzig auf diese Schönheitsfehler zu sprechen. Offenherzig deshalb, weil das, was er sagte, nicht dazu angetan war, seiner Partei besonders zu schmeicheln: Der Redner meinte, die Volkspartei habe in der Waffenaffäre gar nicht viel zu untersuchen gehabt, ja, sie habe die Angelegenheit nicht einmal entdeckt!

Der Parlamentarier Hauser sprach ganz unumwunden von der „Gefahr der Lähmung unserer verfassungsmäßigen Kontrollfunktion“, stellte wiederholt die wirklich fundamentale Frage nach der Parlamentarier-Rolle „im klassischen Sinne“ (ohne selbst eine Antwort zu finden) und meinte dann noch, es wäre wünschenswert, würde das Parlament nicht’ so oft Gesetze beschließen, sondern von Zeit zu Zeit auch überprüfen, wie die Verwaltung die vom Parlament beschlossenen Gesetze vollzieht.

Das Auseinanderklaffen von Verfassungsrecht und „Verfassungswirklichkeit“ ist unter Österreichs Kronju- risten und den direkt betroffenen Abgeordneten schon zu einer Binsenweisheit geworden. Alles spricht davon, niemand aber ist gewillt, die Frage näher zu untersuchen, ob unsere gelebte Verfassungswirklichkeit mit der der Opposition zugeschriebenen Rolle der relativen Ohnmacht einer Interpretation des Willens der Verfassungsmacher der zwanziger Jahre überhaupt noch standhält.

Weder die Abgeordneten der Opposition noch die Verantwortlichen der Regierungspartei haben bisher diesen Ball der Kritik ernsthaft aufzunehmen versucht: Die einen, weil sie eben auf Grund der Machtverhältnisse gar nicht dazu in der Lage sind, Änderungen herbeizuführen; die anderen, weil sie daran nicht im mindesten interessiert sind, zumal sich jede Verfassungsänderung in Richtung einer Stärkung der Kontrollfunktion des Parlaments zumindest teilweise gegen die effektiven Machtträger richten würde.

In der Zeitschrift des Akademikerbundes hat Heinrich Neisser kürzlich einmal über die „Illusion einer Volksvertretung“ geschrieben und dabei auch die Kritik an dem großen Unterschied zwischen Realverfassung und Idealverfassung herausgearbeitet: „Alle meinen im Kern dasselbe: daß nämlich heute die Akteure auf der politischen Bühne zumeist in Stücken auftreten, bei denen die Hauptakteure im Sinne des Textbuches in Wirklichkeit zu Statisten werden und die Kulissenschieber den dramaturgischen Ablauf bestimmen.“

Ursachen, teilweise durchaus begrüßenswerte Ursachen, gibt es für diese Entwicklung in ausreichender Anzahl: Das Wachsen der Zuständigkeiten unserer staatlichen Verwaltung geht mit dem Wachsen des Beamten-

heeres Hand in Hand. Die vielen so- zialpartnerschaftlichen Absprachen haben für weite Bereiche des öffentlichen Lebens eine Art Konsensdemokratie im außerparlamentarischen Bereich errichtet. Schließlich scheint sich zu zeigen, daß unser Verhältniswahlrecht, das ganz auf Parteilisten und deren Spitzenkandidaten abstellt und daher den einzelnen Parlamentarier in seinem Wahlkreis kaum zu besonderer Leistung verleiten kann, auch ein Grund für die geringe Mobilität in der Machtausübung ist - und je länger eine Partei unangefochten die Macht ausübt, desto leichter entzieht sie sich der Kontrollierbarkeit durch ihre politischen Widersacher.

Alles Dinge, die natürlich bei Verteilung der politischen Pfründen an Leute der jeweils anderen Parteifarbe nicht minder zu kritisieren sind.

Was soll also getan werden?

Eine Möglichkeit wäre, mehr Leben, mehr Farbe in das politische Kräftespiel zu bringen: Etwa durch Forcierung der Vorwahlen, durch Auflockerung des starren Verhältniswahlrechts, durch Stärkung der Rolle des einzelnen Abgeordneten, durch Aufwertung des Bundesrates usw.

Der steirische Landeshauptmann Friedrich Niederl hat im letzten Wahlkampf auch die Variante einer laut Verfassung vorgeschriebenen Konzentrationsregierung wieder ins Spiel gebracht.

Schade ist, daß die Sozialisten in den letzten Jahren Gefallen gefunden haben an einer Staatsform, die man als konstitutionelle Monarchie ohne Kaiser bezeichnen könnte. In ihrer Parteitradition waren die Sozialisten aber immer Verfechter eines fast extremen Parlamentarismus. Man denke nur an die Verfassungskämpfe in der Ersten Republik zurück. Oder daran, daß ein Leopold Gratz noch vor Jahren zahlreiche Reformvorschläge in der Tasche hatte, heute davon aber nichts mehr wissen will. Heute aber haben wir gute Aussicht, einer neoabsoluti- scheh Entwicklung entgegenzusteu- em, in der die Abhaltung von Parlamentstagen zur lästigen Formalität wird. Die magere Präsenz der Regierung bei Sitzungen des Nationalrates läßt böse Vorahnungen aufkom- men…

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