7171905-1982_49_01.jpg
Digital In Arbeit

Parlament und Neutralität

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn der Bundeskanzler den außenpolitischen Sprecher der ÖVP im Parlament einen „Lügner" nennt und ihm deshalb von Präsident Minkowitsch ein Ordnungsruf erteilt wird, dann ist das sicherlich kein Höhepunkt des Parlamentarismus. Doch es.hat schon Schlimmeres gegeben. Wenn dann Kanzler und Abgeordneter in einer zwar noch erregten, aber schon wieder im wesentlichen sachlichen Atmosphäre jene historischen Fragen streifen, die bei diesem Zwischenfall angeklungen sind, dann ist dies zwar weniger spektakulär, dem Parlamentarismus aber insgesamt zuträglicher.

Kurz der Ablauf: Abg. Herbert Kohlmaier flicht in der Nationalratssitzung am 30. November in seine Rede so nebenbei die Formulierung ein, die SPÖ wäre 1955 gegen die Neutralität gewesen. Der Bundeskanzler repliziert, bei den Verhandlungen in Moskau im April 1955 hätte sich Vizekanzler Adolf Schärf nur dagegen gewehrt, das Wort Neutralität zu gebrauchen, ohne es eindeutig zu umschreiben. Die Umschreibung wäre deshalb auch als eine solche „nach dem Muster der Schweiz" definiert worden.

Bruno Kreisky rechnet sich diese Umschreibung als ein persönliches Mitverdienst an. Der außenpolitische Sprecher der ÖVP, Ludwig Steiner, wiederum weiß aus seiner Erinnerung als ehemaliger Sekretär Raabs zu berichten, daß an einem nicht genau bezeichneten Abend in Moskau von Schärf gesagt worden sei, die sozialistischen Delegationsmitglieder würden nach Hause fahren, wenn Raab die Neutralität anbiete. Der Kanzler repliziert abermals.

Da Steiner im Zusammenhang mit Sven Allard die Vermutung äußert, dieser wäre von Kreisky über die Moskauer Verhandlungen informiert worden, rät ihm der Bundeskanzler, das Buch Al-lards zu lesen. Das parlamentarische Zwischenspiel ist beendet.

Abgesehen vom rhetorischen Schlagabtausch ist zumindest eines festzustellen: Die österreichische Neutralität ist keine Erfindung des Frühjahrs 1955 gewesen. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die neue Stellung Österreichs zwischen den Machtblöcken in die politischen Überlegungen einbezogen. Nach mehreren konkreten Äußerungen wollte Julius Raab die Probe aufs Exempel machen. In Geheimgesprächen mit dem indischen Ministerpräsidenten Nehru wurde im Sommer 1953 gebeten, in Moskau vorzufühlen, was die Sowjets von einem neutralen Österreich hielten.

Daß der indische Botschafter bei seiner diesbezüglichen Unterredung mit Außenminister Molo-tow vom indischen Beispiel, also vom Neutralismus, ausging, war nicht verwunderlich. Die Russen reagierten nicht. Nach dem indischen Weg ging Julius Raab den finnischen Weg, indem er sich beim finnischen Ministerpräsidenten Urho Kekkonen eingehend über dessen Erfahrungen mit den Sowjets erkundigte.

Schließlich machte Österreich bei der Berliner Konferenz im Februar 1954 einen gezielten Vorstoß in der Neutralitätsfrage. Er blieb noch immer wirkungslos, wenn man davon absieht, daß Molotow den Willen zum Weiterverhandeln bekundete und der amerikanische Außenminister Dulles das Schweizer Vorbild beispielhaft nannte.

Im Oktober 1954 sprachen sowjetische Diplomaten schon sehr deutlich von Neutralität, und schließlich ging es im März 1955 nur mehr darum, eine Formel zu finden, wie man den Sowjets die Neutralität anbieten konnte. Daß dabei schon sehr deutlich von der Schweiz gesprochen wurde, kann nicht verwundern.

Ebenso ist es unbestreitbar, daß es in beiden Parteien Skeptiker und Gegner einer österreichischen Neutralität gab. Die prominenteren Gegner dürften allerdings in der SPÖ gewesen sein. Innenminister Oskar Helmer war beispielsweise aus grundsätzlichen Überlegungen gegen die Teilnahme von Sozialisten bei den Verhandlungen in Moskau.

Daß Schärf dann zögerte, das Wort Neutralität zu gebrauchen, war darauf zurückzuführen, daß er eine punkteweise Aufzählung der österreichischen Verpflichtungen wollte und keine allgemein gehaltene Formulierung wie „nach dem Muster der Schweiz". Zudem dürften ihm wohl die skeptischen Stimmen seiner eigenen Partei in Erinnerung geblieben sein. Doch schließlich stimmten alle in der Neutralitätsformel überein. Nach den Versuchen mit dem indischen wie mit dem finnischen Weg und nach dem Angebot der Bündnisfreiheit war dies eine neue und letzte Variante. Es lag an den Sowjets, sie zu akzeptieren oder zu verwerfen. Wie es ausgegangen ist, wissen wir.

Wie wäre es, wenn man die Frage über das Zustandekommen der Neutralität den Historikern überließe und sie mit jenen Mitteln ausstattete, die ihnen eine weitere Klärung ermöglichen würden? Vielleicht könnte in der Zwischenzeit im Hohen Haus über die Frage diskutiert werden, was wir aus der Neutralität nach dem Muster der Schweiz gemacht haben. Da aber wäre es wohl rechtens, denjenigen als „Lügner" zu bezeichnen, der behauptet, wir hätten uns an das Vorbild gehalten. Mitnichten! Der Autor ist Zeitgeschichtler.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung