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Parlamentarische Demokratie lebendiger, aber noch mangelhaft

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Sicher kann man die Zeit seit 1966 -also die Zeit der Alleinregierungen -als Periode bezeichnen, in der einiges zur Verlebendigung unserer parlamentarischen Demokratie getan worden ist. 1966 bedeutete zweifellos eine politische Zäsur. Seit diesem Jahr sind aber auch Mängel der parlamentarischen Demokratie offenkundig geworden, die einer dringenden Abhilfe bedürfen.

Ein großer Mangel ist zweifellos in den völlig unzulänglichen Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle seitens des einzelnen Abgeordneten gelegen. Die Abgeordneten verfügen weder über die notwendigen Mitarbeiter noch über die erforderlichen technischen Mittel. Eine rasche Aufholjagd in diesem Bereich scheint zur Verbesserung und Verlebendigung der parlamentarischen Demokratie dringend geboten. Es ist nicht tragbar, daß nur den Fraktionen einige wenige Mitarbeiter (Fraktionssekretäre und Maschinschreibkräfte), dem einzelnen Abgeordneten aber weder wissenschaftliche Mitarbeiter, Schreibkräfte oder technische Möglichkeiten noch die notwendigen Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite verfügt die Regierung über eine große Anzahl von qualifizierten Beamten, die Regierungsvorlagen ausarbeiten und bei Ausschußberatungen den Minister unterstützen, als auch über Schreibkräfte sowie technische und räumliche Fazilitäten. Die einzelnen Abgeordneten verfügen aber keineswegs über Fachkräfte, die den einzelnen Abgeordneten maßgebend beraten und ihm auch entsprechende Stellungnahmen zu den umfangreichen Regierungsvorlagen ausarbeiten können. Dies gilt sowohl für die Abgeordneten der Oppositionsparteien als auch für die Mehrheitsfraktion, welche ja auch eine derartige Unterstützung benötigen würden, um gegenüber dem Regierungsapparat die Unabhängigkeit wahren zu können. Gerade in diesem Punkt einer parlamentarischen Reform wäre allerdings die Unterstützung der Medien extrem wichtig.

Die Lehre vom Parlamentarismus und vom Staat postuliert das System der Gewaltentrennung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtssprechung - in der Praxis ist allerdings die Entwicklung gegenläufig. Seit die Regierungen nicht mehr vom jeweiligen „Regenten“ gestellt werden, sondern aus den Reihen der Mehrheitsfraktion, gibt es nicht mehr die Konfrontation zwischen der Regierung als Exekutive und dem Parlament als Legislative, sondern nur mehr zwischen der jeweiligen Regierung, unterstützt von der Mehrheitsfraktion, und der Minderheitsfraktion.

Wir können es klar ausdrücken: die postulierte Gewaltentrennung ist zur Farce geworden. Wenn eine Regierung die absolute Mehrheit im Nationalrat

hat, ist von umfassender Kontrolle ihrer Maßnahmen durch den Gesetzgeber keine Rede mehr. Genauso werden ja die meisten Gesetzesinitiativen nicht vom Nationalrat, sondern von der jeweiligen Regierung gesetzt. Der Nationalrat als oberste Staatsgewalt in der parlamentarischen Demokratie kann daher seine wichtige Doppelfunktion nur mehr eingeschränkt und häufig nur formal erfüllen,

1. das vom Volk ausgehende Recht durch Gesetzesbeschlüsse zu bestimmen und

2. gleichzeitig die Einhaltung dieser Beschlüsse durch die Regierung wirksam zu kontrollieren.

Das bedeutet, daß zwar die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament ein fundamentaler Bestandteil der parlamentarischen Demokratie ist, aber dieser nur theoretisch, nicht praktisch, verwirklicht wird.

Ohne effiziente Kontrolle der Exekutive durch die Legislative ist aber die Gefahr eines Mißbrauches der vollziehenden Staatsgewalt groß.

Ein zumindest ebenso großer Mangel als auch eine echte Gefahr einer Erstarrung ist durch die stark vorhandene Tendenz gegeben, zahlreiche Tabus nicht einmal anzutasten. Dies führt häufig zum Verzicht auf längst notwendige Reformen und - als Uber-tünchung dieser Haltung - zu einem politischen Verhalten der Selbstzufriedenheit, das mit einer opportunistischen zaghaften Alltagspolitik einhergeht. Während große Konzerne über lange Zeitspannen planen, tasten Parteien sich von einer kurzen Legislaturperiode zur anderen, weil jede größere Idee, die strukturelle Reformen nach sich ziehen müßte, an Tabus rütteln, und dieses Rütteln an Tabus die Wiederwahl verhindern könnte. Gleichzeitig wird die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Schwierigkeiten von Tag zu Tag problematischer, zumal Tabus nicht einmal ausdiskutiert werden dürfen. Man müßte aus diesem Grund ernsthafte Überlegungen in allen Parteien anstellen, wie man ein Klima herstellen kann, das offene Diskussionen und „lautes Denken“ ermöglicht - sonst führt das gegenwärtige Verhalten zu einem möglichen Ende jedes kreativen Prozesses, jedes innovatorischen Ansatzes.

Durch die Situation, daß die Mehrheitsfraktion die Regierung bildet, ist zwar theoretisch auch den Mitgliedern der Mehrheitsfraktion die Aufgabe aufgetragen, ihre Parteifreunde zu kontrollieren, praktisch sind die Mitglieder der Mehrheitsfraktion fast ausschließlich damit beschäftigt, „ihrer“ Regierung der Opposition gegenüber den Rücken zu stärken.

Sicher ist seit 1969 eine Verlebendigung der parlamentarischen Demokratie durch das intensive Nützen der parlamentarischen Interpellation eingetreten. Mündliche Fragestunden,

schriftliche Interpellationen und dringliche Anfragen sind zunehmend zu wirksamen Waffen der parlamentarischen Kontrolle geworden. Ebenso konnte eine Verlebendigung durch die Einsetzung mancher Untersuchungsausschüsse erreicht werden. Dabei zeigte sich aber bereits ein gravierender Mangel, weil zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses die Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit erforderlich ist. Diese Regelung ist keineswegs zweckmäßig, denn letzten Endes hat keine Parlamentsmehrheit ein echtes Interesse, der von ihr gestellten Regierung vor aller öffentlichkeit Schwierigkeiten zu bereiten. Es sollte deshalb das Recht einer qualifizierten Minderheit übertragen werden (beispielsweise einem Viertel der Nationalratsabgeordneten): sowohl die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses als auch die Bestimmung des Themas. Gleichermaßen sollte die Beschlußfassung über die Abhaltung parlamentarischer Enqueten von der Mehrheit auf eine qualifizierte Minderheit übertragen werden. Dies könnte sicher zu einer wesentlichen Erhöhung des Informationsstandes des Parlamentes führen.

Fest steht, daß die Opposition ohne Zweifel am Funktionieren des Parlaments interessierter ist als die Regierungspartei, weil die parlamentarischen Auseinandersetzungen über Regierungsvorschläge den Oppositionspolitikern ja die Möglichkeit geben, ihre Gegenvorschläge und ihre Kritik effizient vorzutragen. Im Sinne einer echten Verbesserung und Verlebendigung der parlamentarischen Demokratie aber sollte eine Effizienzsteigerung des Parlaments ein Anliegen aller Parteien sein.

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